Gesundheitsbildung – Die vergessene Bildung?

Die Erinnerung an die Gesundheit
Mundschutzmasken, Desinfektionsmittel, Plexiglasscheiben, all das sind keine neuen Erfindungen und doch, sie sind deutlich allgegenwärtiger als sie es noch vor drei Jahren waren. Wäre vor Ausbruch der Pandemie jemand in unseren Breitengraden grundsätzlich nur mit Mundschutzmaske vor die Türe gegangen und hätte sich im Minutentakt die Hände desinfiziert, so wäre er wahrscheinlich als Hypochonder abgestempelt oder doch zumindest schief von der Seite angesehen worden – medizinische Berufe einmal ausgenommen. Doch vielleicht lässt sich mittlerweile ein Wandel in der Gesellschaft erkennen, eine erhöhte Bereitschaft zur Inkaufnahme von Kompromissen, wenn diese der eigenen Gesundheit oder der Gesundheit anderer Menschen zuträglich ist, obwohl die Corona-Pandemie glücklicherweise nicht mehr so omnipräsent ist wie sie es vor einiger Zeit noch war. Diese Maßnahmen werden hier weder positiv noch negativ bewertet, sie verdeutlichen nur ein Umdenken, einen anderen Fokus. Alle aktuell erkennbaren Schutzmaßnahmen sind einigermaßen eindeutig auf die Eindämmung des Corona-Virus gerichtet. So positiv es ist, wenn diese Maßnahmen einen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie leisten, so unbequem ist die sich daraus im Umkehrschluss ergebende Frage: musste es erst so weit kommen, um ein Bewusstsein für die Wichtigkeit von einfachen Hygienemaßnahmen zu schaffen? Noch abstrakter: mangelt es in unserer Gesellschaft an einer gesundheitlichen Grundbildung?
Die Gesundheit im Alltag
Die Wichtigkeit von regelmäßigem Händewaschen und Zähneputzen wird jedem Kind eingebläut. Auch herrscht ein uneingeschränkter Konsens über die verheerenden gesundheitlichen Auswirkungen von Zigaretten, und auch die Auswirkungen von übermäßigem Alkoholkonsum sind weitgehend unbestritten. Insoweit gibt es durchaus eine gesundheitliche Grundbildung, ein Basiswissen dessen, was gesundheitsfördernd und was gesundheitsschädigend ist. Doch ist diese Basis tatsächlich ausreichend? Man könnte herausfordernd argumentieren: „nein, offensichtlich nicht, denn wenn die Corona-Pandemie durch einfache Hygienemaßnahmen eingedämmt werden kann und die Allgemeinheit eine ausreichend fundierte Kenntnis dieser einfachen Hygienemaßnahmen gehabt hätte, dann wäre es eben nicht so weit gekommen“. Zugegeben, herausfordernd bis provokativ argumentiert und natürlich jeden Einfluss einer jeden Impfung komplett außer Acht lassend, aber im Kern wohl nicht falsch. Gesundheit und der Einfluss des Einzelnen auf eben diese ist von der Gesellschaft in der Vergangenheit vielleicht nicht in angemessenem Maße beachtet worden. Es ist bereits eingangs gesagt worden: wer vor der Pandemie mit Mundschutzmaske herumgelaufen wäre, hätte in unserem Kulturkreis sicherlich einiges an Aufsehen erregt. In anderen Kulturkreisen hingegen ist es seit Jahren üblich, im Falle einer einfachen Erkältung nur mit Mundschutz in die Öffentlichkeit zu gehen, um die Gefahr zu reduzieren, dass sich andere Menschen anstecken. Das soll nicht heißen, dass dieser Ansatz allgemeingültig besser ist, aber es verdeutlicht, dass das Verhältnis von Menschen zur Gesundheit auch eine Frage der Kultur ist. Beispielsweise lag der Anteil der erwachsenen Bevölkerung, die unter Übergewicht leidet (also einen Body-Maß-Index von mindestens 25) aufweist, in den Vereinigten Staaten bei 40%, in Korea hingegen bei 5,3% und in Japan sogar bei nur 3,7%. Europäische Länder wie Deutschland (23,6%), Belgien (18,6%) und Österreich (14,7%) weisen zwar deutlich positivere Anteile auf als die USA, sind jedoch gleichzeitig deutlich schlechter als die asiatischen Anteile[1]. Zugegeben, das ist nicht allein auf kulturell unterschiedliche Ernährungs- und Lebensweisen zurückzuführen, sondern hat auch genetisch bedingte Gründe, doch Ernährung und Lebensweise haben eben auch ihren Anteil.
Die Gesundheit in der Erwachsenenbildung
Was hat das alles mit Erwachsenenbildung zu tun? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt sich ein Blick auf die geschichtliche Entstehung des Begriffes der Gesundheitsbildung. Dieser ist, zumindest in der deutschen Sprache, abzugrenzen von dem Begriff der Gesundheitserziehung. Gesundheitsbildung wird definiert als organisierte Lern- und Entwicklungsprozesse, die es Menschen ermöglichen, gezielt Einfluss auf die Faktoren zu nehmen, die ihre Gesundheit bestimmen, d. h. auf ihre Lebensbedingungen und ihr Gesundheitshandeln[2]. Gesundheitserziehung hingegen wird im von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgebrachten Health Promotion Glossary of Terms 2021[3] definiert als „any combination of learning experiences designed to help individuals and communities improve their health by increasing knowledge, influencing motivation and improving health literacy“, also jede Kombination von Lernerfahrungen, um Personen und Gemeinschaften zu helfen, ihre Gesundheit zu verbessern, indem Wissen gesteigert, Motivation beeinflusst und Gesundheitskompetenz verbessert wird. Erwähnenswert ist in diesem Kontext, dass diese (aktuelle) Definition der Gesundheitserziehung wesentlich von der ursprünglichen Definition des Glossary of Terms von 1986 unterscheidet. Nach dieser ursprünglichen Definition umfasst Gesundheitserziehung „ein breites Spektrum von Aktivitäten, die von Informations- und Bildungsangeboten bis hin zu sozialer Mobilisierung und gesundheitspolitischer Interessenvertretung reichen[4]. Insgesamt lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Begriff der Bildung eher die selbstbestimmte und individuelle Ausrichtung von Handlungen und Entscheidungen auf der Grundlage erworbenen Wissens betont, während es bei der Erziehung um zielgerichtete Verhaltensmodifikation geht, an deren erfolgreichem Ende ein bereits vorher als wünschenswert oder richtig festgelegtes, bestimmtes Verhalten steht. Damit entspricht der Begriff der Bildung eher dem Grundgedanken der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986[5]. Ebenso entspricht der Begriff der Bildung eher als der Begriff der Erziehung dem Selbstverständnis der Erwachsenenbildung – Erwachsenenbildung, wohlgemerkt, nicht Erwachsenenerziehung.
Gesundheitsbildung ist ein Bestandteil der Erwachsenenbildung
Jenseits abstrakter Begrifflichkeiten und komplexer Definitionen, worum geht es eigentlich? Wenn man versucht, Sinn und Zweck jeglicher Art von Gesundheitsbildung, -erziehung und -aufklärung, auf den einfachsten Nenner zu bringen, dann dienen all diese Konzepte und Ansätze der bestmöglichen Aufrechterhaltung und Förderung der Gesundheit des Einzelnen. Am Ende geht es darum, dass es dem Menschen gut geht. Hierzu kann die Erwachsenenbildung einen Beitrag leisten. Wie sich aus den zitierten Definitionen und den in den Fußnoten verlinkten Internetseiten ergibt, ist dieser Umstand, dass die Erwachsenenbildung einen Beitrag zur allgemeinen Gesundheit des Volkes, wenn man es denn so nennen will, leisten kann, bekannt und akzeptiert. Insoweit ist die eingangs aufgestellt These der vergessenen Gesundheitsbildung eigentlich hinfällig.
Das angemessene Maß
Allerdings, die Erkenntnis beschränkt sich momentan darauf, dass ein Grundverständnis für die Notwendigkeit einer Gesundheitsbildung auch im Rahmen der Erwachsenenbildung gegeben ist und dass es Bemühungen gibt, der Gesundheitsbildung einen Platz im Rahmen der Erwachsenenbildung zu geben. Damit ist freilich noch keine Aussage darüber getroffen, ob dieser der Gesundheitsbildung zugestandene Platz ihrer Wichtigkeit angemessen oder auch nur ausreichend ist. Plakativer lässt es sich vielleicht mit einem Beispiel aus dem Klimaschutz darstellen: die Wichtigkeit von Klimaschutz darf mittlerweile als gesellschaftlich anerkannt bezeichnet werden, und es gibt eine Reihe von Bemühungen, um den Klimaschutz zu fördern. Als gesichert gilt jedoch auch, dass die aktuellen Klimaschutzbestrebungen, die es ja gibt und die ja nichtsdestotrotz eine Wirkung entfalten, nicht ausreichend sind, um dem Klimawandel ausreichend entgegenzuwirken. Anders formuliert: wie viele Bemühungen sind ausreichende Bemühungen? Um wieder auf die Gesundheitsbildung zurückzukommen: die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen steigt. Das ist ein statistisch nachweisbarer Fakt[6]. Wenn ein langes Leben mit Gesundheit gleichgesetzt wird, was durchaus logisch und nachvollziehbar ist, könnte eine im Vergleich zur Vergangenheit gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung ein Indikator dafür sein, dass in unserer Gesellschaft eine durchschnittlich ausreichende Gesundheitsbildung verankert ist, die als Grundlage für diesen Anstieg der Lebenserwartung dient. Dies wäre jedoch eine stark vereinfachte Argumentation, denn während Gesundheitsbildung im Allgemeinen einen Beitrag daran haben mag, dass die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, so sind auch andere Faktoren maßgeblich daran beteiligt, etwa der medizinische Fortschritt, der unabhängig von der Gesundheitsbildung des Einzelnen stattfindet. Außerdem ist die durchschnittliche Lebenserwartung nur ein möglicher Indikator für eine ausreichend stattfindende Gesundheitsbildung. Ein anderer möglicher Indikator könnte beispielsweise die Anzahl schwerer Erkrankungen sein, und wenn man (ausschließlich) diese zugrunde legt, um zu entscheiden, ob ausreichend Gesundheitsbildung stattfindet oder nicht, könnte die Antwort auf diese Frage ganz anders lauten. So gibt es Prognosen, die auf Daten der International Agency for Research on Cancer basieren, dass sich die Anzahl weltweiter Krebserkrankungen von 19.292.789 im Jahre 2020 auf 30.226.151 im Jahr 2040 erhöhen wird[7]. Ähnlich verhält es sich bei Herzerkrankungen: die Anzahl der Krankenhausaufnahmen in Deutschland aufgrund einer Herzinsuffizienz nahm zwischen 2000 und 2019 um 40% zu[8]. Nur unter Zugrundelegung dieser Indikatoren wäre die logische Schlussfolgerung, dass offenbar keine ausreichende Gesundheitsbildung stattfindet, um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Relativierend sollte berücksichtigt werden, dass weder positive noch negative Tendenzen hinsichtlich der gesundheitlichen Entwicklung der Gesellschaft einzig und allein auf die Gesundheitsbildung zurückzuführen sind. Es handelt sich um komplexe Vorgänge, um eine Vielzahl von Faktoren, die einander bedingen und in Wechselwirkung zueinanderstehen. So ist bereits die Tatsache, dass die Lebenserwartung der Menschen ansteigt, so positiv dies in sich sein mag, auch eine Ursache für die steigende Anzahl an Krebs- und Herzerkrankungen, da das Risiko, an diesen Erkrankungen zu erkranken, im Alter exponentiell zunimmt.
Das nicht ausreichende Maß
Im Zweifel sei also angenommen, dass keine ausreichende Gesundheitsbildung stattfindet. Nicht, weil das Fehlen angemessener Gesundheitsbildung ursächlich für diese Tendenzen ist, sondern weil mehr Gesundheitsbildung erforderlich ist, um diesen Tendenzen entgegenzuwirken. Wie konkret könnte also diese angemessene Gesundheitsbildung im Rahmen der Erwachsenenbildung aussehen? Eine Antwort auf diese Fragestellung ist natürlich in hohem Maße abhängig von der konkret gebotenen Art der Erwachsenenbildung. Ein Sportangebot oder ein Kochkurs werden es deutlich leichter haben, gesunde Lebensweisen zu vermitteln als ein Kurs im Bierbrauen. Ein Grundkurs in Informatik wird kaum einen ausreichenden Fokus auf körperliche Bewegung setzen können. Dennoch erscheint es ohne übertriebenen Aufwand möglich, gesundheitspädagogische Inhalte auch in fachfremden Unterrichten aufzunehmen. Der Sprachkurs an der Abendschule hat in sich weder einen positiven noch einen negativen Einfluss auf die Gesundheitsbildung, doch lässt sich ein thematischer Schwerpunkt anhand der zu bearbeitenden Texte setzen. Natürlich gilt es, die Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Eine inhaltlich-thematische bereits festgelegte Art der Erwachsenenbildung kann und muss sich nicht selbst zugunsten ausschließlich gesundheitspädagogischer Inhalte aufgeben. Wenn an einer Volkshochschule ein Geschichtskurs gegeben wird, dann geht es in erster Linie um Geschichte und nicht um Gesundheit. Aber auch in den Facetten der Erwachsenenbildung, in denen sich kein unmittelbarer Bezug zur Gesundheitsbildung herstellen lässt, kann zumindest ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, den Unterricht, den Kurs selbst so gesundheitsfördernd wie möglich zu gestalten. Dabei geht es nicht um große Offenbarungen, es ist die Summe vieler Kleinigkeiten, die am Ende vielleicht – hoffentlich – einen Unterschied ausmacht, eine gesunde Sitzhaltung, ausreichende Frischluftzufuhr, genügend Pausen.
Was die Erwachsenenbildung für die Gesundheit tut
Die Frage nach dem richtigen Maß ist im Prinzip theoretischer Natur. Wenn es um etwas so Wichtiges, so Fundamentales wie die Gesundheit geht, gilt folgende banale, aber zutreffende Aussage: man kann immer mehr tun. Gesundheit geht jeden etwas an, das hat die Corona-Pandemie auf sehr eindrückliche Art und Weise verdeutlicht. Dessen ist sich auch der EAEA, der Verband der Erwachsenenbildung in Europa, bewusst und brachte bereits 2015 das Strategiepapier „Adult Education & Health“ heraus. Es enthält Ratschläge und Empfehlungen sowohl für politische Entscheidungsträger als auch für Erwachsenenbildungsanbieter, denn Gesundheitsförderung findet richtigerweise auf allen Ebenen statt, im Großen und im Kleinen, denn, wie Arthur Schopenhauer bereits vor mehr als 150 Jahren sagte:
"Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts."
[1] Presse - Organisation for Economic Co-operation and Development (oecd.org), abgerufen 14.07.22.
[2] BZgA-Leitbegriffe: Gesundheitsbildung, abgerufen am 18.07.2022.
[3] Health Promotion Glossary of Terms 2021 (who.int), abgerufen am 18.07.2022.
[4] BZgA-Leitbegriffe: Gesundheitliche Aufklärung und Gesundheitserziehung, abgerufen am 18.07.2022.
[5] Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung - Bundesverband Gesundheit e.V. - Gesundheitsförderung als Auftrag (bv-gesundheit.org), abgerufen am 18.07.2022.
[6] Lebenserwartung und Sterblichkeit - Statistisches Bundesamt (destatis.de), abgerufen am 18.07.2022.
[7] Krebsneuerkrankungen - Prognose weltweit bis 2040 | Statista, abgerufen am 18.07.2022.
[8] Herzbericht 2020: mehr Erkrankte, geringere Sterblichkeit (vorsorge-online.de), abgerufen am 18.07.2022.
Werdegang
Ich arbeite seit November 2018 in der Nationalen Agentur für die europäischen Förderprogramme Erasmus+ und das Europäische Solidaritätskorps (angesiedelt im Jugendbüro der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens).
Zunächst zeichnete ich dort verantwortlich für die Bewertung und Bearbeitung der Anträge und Projekte in den Bereichen Schulbildung, Berufsbildung und Hochschulbildung. Seit Januar 2021 koordiniere ich darüber hinaus das Youth Wiki in der Deutschsprachigen Gemeinschaft, die Online-Enzyklopädie über die verschiedenen Jugendpolitiken in Europa. Im Januar 2022 gab ich die Bildungsbereiche ab und übernahm stattdessen den Jugendbereich (sowohl Erasmus+ als auch das Europäischen Solidaritätskorps).
Vor meiner Zeit im Jugendbüro studierte ich Rechtswissenschaften an der Universität Trier mit einem Fokus auf internationalen Rechtssystemen. Außerberuflich bin ich gewerkschaftlich aktiv, weitere Interessen bilden Sprachen, Literatur, Kultur und Gesellschaft.
Weitere Veröffentlichungen
- Die Bildung in den Zeiten der Corona
- Über das Gerücht der Gleichheit der Menschen: Zugang zur Bildung
- Medienkompetenz – Grenzen und Möglichkeiten
- Corona und das Klima
- Was Mensch zum Leben braucht
- Die Kommunikation zwischen Lehrendem und Lernenden
- Wahlrecht oder Wahlpflicht?
- Der (junge) Erwachsene. Um wen geht's eigentlich?
- Kultur als Eckpfeiler der menschlihen Gesellschaft und als wichtiger Bestandteil menschlicher Identität