EPALE Interview: Angelika Hrubesch über Basisbildung

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In Österreich leben mehr als 1,5 Millionen Erwachsene, die Schwierigkeiten mit dem Lesen, Schreiben, Rechnen oder mit digitalen Anwendungen haben. Das ist keine Ausnahme, sondern kommt häufig vor, auch wenn darüber kaum gesprochen wird. Basisbildung ist ein Praxisfeld der Erwachsenenbildung, in dem es nicht nur darum geht, grundlegende Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben oder Rechnen zu verbessern. Im Mittelpunkt stehen ebenso die Förderung von Autonomie und Selbstwirksamkeit der Teilnehmenden, so die Zentrale Beratungsstelle für Basisbildung und Alphabetisierung. Das Projekt "SICHTBAR!", initiiert vom lernraum.wien der Wiener Volkshochschulen, zielt darauf ab, die breite Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren und es zu enttabuisieren. Darüber haben wir von CONEDU mit der Projektleiterin Angelika Hrubesch ein Interview geführt, in dem sie über ihre Erfahrungen im Projekt, die Hintergründe und über Basisbildung im Allgemeinen spricht.
Können Sie mir einen kurzen Überblick über das Projekt "SICHTBAR!" geben?
In der praktischen Basisbildungsarbeit gibt es kaum Ressourcen für Öffentlichkeitsarbeit oder Sensibilisierungskonzepte. Mit “Sichtbar!“ können wir nicht nur auf unsere eigenen Kurs- und Lernraumangebote an den Wiener Volkshochschulen hinweisen, sondern auch auf Basisbildung im Allgemeinen aufmerksam machen. Diese Art der Sensibiliserungsarbeit findet im Projekt anhand verschiedener Angebote statt. Es werden kostenlose Workshops für Institutionen und Behörden angeboten, die selbst nicht im Bereich der (Basis-)Bildung tätig sind, aber beratenden Tätigkeiten nachgehen, wie etwa für das AMS. Zentral dabei ist die Zusammenarbeit mit sogenannten Themenbotschafter/innen. Diese sind Co-Trainer/innen in Workshops und besuchen oder besuchten selbst einen Basisbildungskurs. Sie sind daher Expert/innen, wenn es um Lern- und Alltagserfahrungen von Menschen mit Basisbildungsbedarf geht. Zusätzlich gibt es Pop-up-Schreibstuben und Informationsstände an öffentlichen Orten wie Magistraten. Dort ist jeweils ein/e Projektmitarbeiter/in vor Ort, der/die über Basisbildung informiert und auf Wunsch Unterstützung beim Schreiben anbietet.
Inzwischen gibt es „Sichtbar!“ schon seit drei Jahren. Können Sie die Entwicklung beschreiben?
In der Basisbildungs-Szene in Österreich sprechen wir immer wieder darüber, dass es Kampagnen für Basisbildung und Alphabetisierung braucht, die nicht mit Schock, Scham und Betroffenheit arbeiten. Eine Erasmus+ Mobilität beim Grundbildungszentrum Stiftung Grundbildung in Berlin gab den Anstoß, ein Sensibilisierungsangebot nach Wien zu bringen. Mittlerweile ist das Projekt im dritten Jahr.
In den ersten Jahren haben wir mit Sensibilisierungsschulungen angefangen und im zweiten Jahr kamen die Pop-Up-Infostände und Schreibstuben dazu. Das Projekt ist insgesamt sehr klein. Breitflächige Angebote, wie etwa das Alfa-Mobil in Deutschland, sind bei uns leider nicht finanzierbar. Deshalb haben wir uns für ein Pop-Up-Konzept entschieden, um verschiedene Dinge ausprobieren zu können. Wir haben von Anfang an gemeinsam mit den Themenbotschafter/innen überlegt: Wo wäre es gut, Workshops anzubieten? An welche Stellen sollten wir herantreten? Denn sie sind ja viel näher an der Zielgruppe dran als wir als Basisbildungstrainer/innen.
Wenn ich es richtig verstehe, haben Sie das Projekt von Anfang an partizipativ gestaltet?
Ja, wir haben die Workshops gemeinsam mit den Themenbotschafter/innen entwickelt, von der Idee bis zum Präsentationsmaterial.
Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass Basisbildung gesellschaftlich mehr Aufmerksamkeit bekommt?
Es ist eine Realität, dass viele Menschen in Österreich Basisbildungsbedarf haben. Diese Realität müssen wir anerkennen. Das bedeutet, dass wir Strukturen verändern oder anpassen müssen - nicht nur in Form von Bildungsangeboten, sondern auch durch den Abbau von Barrieren wie etwa bei der Beschriftung in öffentlichen Gebäuden. Daher ist es wichtig, dass möglichst viele Menschen und Institutionen für Basisbildungsbedarf sensibilisiert werden und ihre Bereitschaft erhöhen, auch an ihren eigenen Schriftbarrieren etwas zu ändern. Darüber hinaus wollen wir Basisbildungsangebote bekannter machen, vor allem bei Personen, deren Erstsprache Deutsch ist. Viele Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten können nämlich sehr gut Deutsch. Für sie ist es oft noch schwieriger, Probleme beim Lesen zuzugeben, da das Thema ja auch mit Scham behaftet ist. Oft fallen diese Menschen nicht auf: Sie drücken sich sehr eloquent aus, sprechen flüssig, haben keinen Akzent. Ein Formular auszufüllen, stellt dann aber eine Barriere dar. Besonders diese Information wollen wir mit „Sichtbar!“ verbreiten: Es betrifft Menschen, die Deutsch können. Es betrifft Menschen, die in Österreich zur Schule gegangen sind. Und: Sie sind nicht selbst schuld, weil sie nicht genug aufgepasst oder gelernt hätten, sondern dahinter steht ein strukturelles Problem. Und wir wollen darauf aufmerksam machen: Es gibt Kurse für Erwachsene, die zwar lesen können, aber nicht so gut.
Besonders spannend finde ich die Idee der Pop-Up-Schreibstuben: Wie werden sie angenommen?
Wir haben versucht, die Pop-Up-Schreibstuben an verschiedenen Orten zu veranstalten, wo die Menschen ohne Terminvereinbarung hinkommen können, zum Beispiel um einen Reisepass ausstellen zu lassen oder irgendeinen Antrag zu stellen. Der Kontakt zu den verschiedensten Institutionen selbst ist aber schon ein gutes Stück Sensibilisierungsarbeit. Von den Betreiber/innen haben wir immer wieder gehört: „Das brauchen wir nicht. Bei uns gibt es keine Klient/innen, die das betrifft.“ Wir haben dennoch mit unverbindlichen Angeboten gestartet, mit unterschiedlichem Erfolg. Später haben wir unser Angebot zum Beispiel an eine bestehende Rechtsberatung angegliedert, wo es wiederum sehr gut angenommen wird. Die Menschen kommen ohnehin zur Beratung, müssen warten und in dieser Wartezeit nutzen einige die Gelegenheit, sich auch von uns unterstützen zu lassen. Zum Beispiel: „Lesen Sie sich das mal durch?“ oder „Können wir das kurz gemeinsam schreiben?“ Andere wiederum erfahren zum ersten Mal von Basisbildungsangeboten und nehmen Informationsmaterial mit.
Eine unserer Schreibstuben hat ihren Pop-Up-Charakter inzwischen ein wenig verloren: In Kooperation mit der „Wiener Gebietsbetreuung“ dürfen wir ein bestimmtes Lokal regelmäßig als Schreibstube nutzen. Diese ist an das sogenannte „Plaudertischerl“ angeschlossen, ein bestehendes Angebot aus der klassischen „Grätzelarbeit“. Dabei kommen Leute zusammen und erzählen. In der Schreibstube werden dann z.B. persönliche Briefe, Weihnachtskarten usw. geschrieben. Dieses Angebot findet regelmäßig statt: Jeden vierten Mittwoch im Monat.
Das klingt nach einem sehr niederschwelligen Angebot.
Ja. Ich erzähle dazu gerne die Geschichte meiner Oma: Sie konnte schreiben. Zu ihr ist oft eine andere Frau aus dem Ort gekommen und meine Oma hat dann für sie geschrieben. Ähnliches ist mir auf einer Urlaubsreise in Marokko begegnet: Da habe ich einen Schreiber auf dem Markt sitzen sehen und die Leute sind zu ihm gekommen, er hat ihnen etwas aufgeschrieben oder vorgelesen. Dieses Bild habe ich bei unseren Pop-Up-Schreibstuben im Kopf: Wir setzen uns hin und die Menschen kommen, um gemeinsam mit uns ihre Schreibangelegenheiten zu erledigen.
Gibt es Anekdoten oder Erlebnisse aus dem Projekt „Sichtbar!“, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Besonders eindrücklich sind mir Diskriminierungserfahrungen einzelner Themenbotschafter/innen im Gedächtnis geblieben, die vom Schul- bis ins Erwachsenenalter reichen: etwa Geschichten von Behördengängen, wo Betroffene um Hilfe bei einem Formular bitten und der Berater oder die Beraterin nur antwortet: „Dann lassen Sie sich besachwalten.“
Beeindruckt hat mich auch die Erzählung eines Krankenhaus-Mitarbeiters: Er war dafür zuständig, Medikamente für die spätere Verwendung zu sortieren. Ihm war bewusst: „Wenn ich da etwas verwechsle, kann das massive Auswirkungen haben, da dann jemand die falsche Substanz bekommt.“ Und gleichzeitig sagte er: „Ich kann eigentlich gar nicht richtig lesen.“ Seine enorme Verantwortung und seine Last waren wirklich spürbar. Auch Frauen erzählen Geschichten im Zusammenhang mit ihrer Mutterschaft: wie viel Druck auf ihnen als Eltern lastet und ihre Sorge, etwas für Kinder nicht richtig erledigen zu können wegen sprachlicher oder schriftsprachlicher Hürden. Diese Angst geht bis dahin, dass sie fürchten, ihnen könnten aufgrund von inkorrekten Formalitäten bei Behörden die Kinder abgenommen werden.
In den Workshops werden die Themenbotschafter/innen als Co-Referent/innen wahrgenommen. Ihre Erzählungen, ihre Eloquenz sind wirklich bemerkenswert. Ich habe oft den Eindruck, dass dies bei den Teilnehmerinnen etwas öffnet und ihnen Gedanken kommen, wie: „Ach, das hätte mir auch passieren können!“ Oder: „Jetzt sehe ich das Verhalten meiner Kollegin in einem ganz anderen Licht.“ Oder: „Vielleicht habe ich da jemanden vor den Kopf gestoßen mit meiner schriftlichen Anordnung.“
Eine etwas offenere Frage: Warum ist aus Ihrer Sicht Basisbildung wichtig? Was soll Basisbildung bewirken?
Ich würde die Frage immer wieder mit Paulo Freire beantworten: Basisbildung kann die Welt verändern. Besser lesen oder schreiben zu lernen, verändert einen selbst und auch die unmittelbare Umgebung. Man fühlt sich selbstwirksamer, denn man kann mehr bewirken - zum Beispiel als Eltern von Schulkindern für die eigenen Kinder, am Arbeitsplatz und auch als Bürger/in. Das macht Basisbildung automatisch politisch.
Zum Abschluss: Inwiefern ist die Plattform EPALE für das Projekt „Sichtbar!“ oder für die Basisbildungspraxis hilfreich?
Mitarbeiter/innen des lernraum.wien nutzen wir EPALE, um uns zu informieren – auch international. Die Plattform ist sehr praktisch, um Infos über Projekte oder Ergebnisse an eine bestimmte Zielgruppe zu verteilen. Die übersetzten Beiträge helfen uns, über den nationalen Tellerrand hinauszublicken und über Erwachsenenbildung, insbesondere zum Schwerpunkt Grundbildung, in der EU auf dem Laufenden zu bleiben.
Danke für das Interview!
Weitere Informationen:
Text/Author of original article in German: Antonia Unterholzer/CONEDU
Redaktion/Editing of original article in German: Bianca Friesenbichler/CONEDU