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Ein großer Teil der Bevölkerung assoziiert Analphabetismus mit mangelnden Lese- und Schreibkenntnissen – wodurch er in der polnischen Gesellschaft auch als marginales Problem angesehen wird. Viele Menschen sind der Meinung, das Problem des Analphabetismus gehe sie nichts an. Doch stimmt das?

^{Quelle: Pixabay}

Funktionaler Analphabetismus 

Der funktionale Analphabetismus bezieht sich auf das Leseverständnis und die Fähigkeit, Inhalte korrekt wiederzugeben. Das bedeutet, dass eine Person, die von dieser Art Analphabetismus betroffen ist, zwar lesen und schreiben kann, aber nicht in der Lage ist, Informationen korrekt zu erfassen und kritisch und analytisch zu hinterfragen. Dies wiederum führt dazu, dass es schwierig ist, die Welt um uns herum zu verstehen. 

Laut Definition spricht man von funktionalem Analphabetismus, wenn die Lese- und Schreibfähigkeiten Erwachsener unter dem liegen, was für das Funktionieren in der Gesellschaft und die Verwirklichung individueller Lebenschancen erforderlich ist (Egloff, Grosche, Hubertus, Rüsseler 2011, 14)^[1]. An dieser Stelle ist zu betonen, dass es sich bei funktionalem Analphabetismus nicht um ein individuelles, sondern eher um ein soziales und strukturelles Problem handelt.

Wie ist die Situation in Polen?

Funktionaler Analphabetismus bezieht sich auf die Grundfertigkeiten, zu denen Lesen, Schreiben und Leseverständnis, aber auch Rechnen und mathematisches Denken sowie die Fähigkeit zur Verwendung moderner Technologien gehören. Letztere sind definiert als die Fähigkeit, einen Computer und das Internet zu nutzen, um Informationen zu beschaffen und zu analysieren, mit anderen zu kommunizieren und um praktische Aufgaben im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Kontext zu erfüllen.

Funktionale Analphabeten können also Buchstaben zu Wörtern und diese zu Sätzen zusammensetzen. Sie sind in der Lage, schriftliche Botschaften auf einem grundlegenden Niveau zu verstehen, haben aber Schwierigkeiten, diese zu interpretieren und zu verstehen. 

Die Ergebnisse des PIAAC-Programms (Programme for the International Assessment of Adult Competencies) zeigen, dass Pol:innen ein niedriges Niveau an Grundkenntnissen besitzen (Burski et al. 2013)^[2]. Fast 15 % der polnischen Erwachsenen haben sowohl beim Leseverständnis als auch beim mathematischen Denken ein unzureichendes Niveau, weitere 13 % mindestens in einem der beiden Bereiche. Darüber hinaus verfügen fast alle diese Menschen über geringe oder gar keine IKT-Kenntnisse.

Dieses Problem der gering ausgeprägten Fertigkeiten ist insofern ernstzunehmen, weil es nicht nur im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, sondern auch im sozialen Bereich schwerwiegende Folgen hat. Menschen mit gering ausgeprägten Grundfertigkeiten sind eher von sozialer Ausgrenzung bedroht und leben in Armut.   

Die Empfehlung des Rates der Europäischen Union vom Dezember 2016 zum Thema „Wege zur Höherqualifizierung: Neue Chancen für Erwachsene“ (Upskilling Pathways: new opportunities for adults) zielt darauf ab, systematische Maßnahmen für Erwachsene mit geringen Grundfertigkeiten anzuregen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass diese Menschen sowohl vom sozialen als auch vom wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. In der Empfehlung wird insbesondere die Notwendigkeit einer kontinuierlichen beruflichen Weiterentwicklung und des lebenslangen Lernens betont.

Soziale Folgen

In der heutigen Zeit ist die Fähigkeit, Fakten von Meinungen zu unterscheiden, für die Betrachtung zahlreicher Themen von entscheidender Bedeutung. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Botschaft und die Absichten unserer Gesprächspartner:in zu verstehen, bleiben wir oft in Informationsblasen gefangen. Derartige Blasen bringen Gleichgesinnte zusammen und schaffen polarisierende Lager, zwischen denen es keine gemeinsame Gesprächsgrundlage gibt. Über die Zeit verfestigen sich diese Ökosysteme aus Gleichgesinnten und gleichen Interessen und lassen kaum noch andere Ansichten als die der jeweiligen Beteiligten zu. Unter solchen Bedingungen sind eine gute Kommunikation und kollektives Handeln nicht mehr möglich. Es gibt keine gemeinsame Sprache, da jede Blase ihre eigene (spezifische) Sprache entwickelt. Auf diese Weise kann eine narzisstische virtuelle Welt entstehen, in der sich ausschließlich Gleichgesinnte treffen, die sich gegenseitig bestärken. Darüber hinaus ist der funktionale Analphabetismus eine Form der Diskriminierung, die bestimmte Personengruppen den Zugang zu Wohlstand verwehrt.

Wirksame Lösungen 

Eine zentrale Frage ist, ob eine Verbesserung der Grundfertigkeiten in Polen möglich ist, und wenn ja, wie dies bewerkstelligt werden kann. Eine der ersten und werthaltigen Großinitiativen dieser Art ist das Projekt „Opportunity – neue Chancen für Erwachsene“ (2018-2021)^[3], in dessen Verlauf es gelungen ist, innovative Unterstützungsmodelle für Erwachsene mit gering ausgeprägten Grundfertigkeiten aus ausgewählten Zielgruppen in der Praxis zu erproben. 

Wenn man davon ausgeht, dass man durch die Verbesserung der Grundfertigkeiten leichter in einer sich schnell verändernden Welt zurechtkommt, sollte man nicht vergessen, dass dies kein Allheilmittel ist, um sich erfolgreich in der Umwelt zurechtzufinden. Denn ob ein Erwachsener diese Fähigkeiten nutzt, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von sozialer Unterstützung sowie von kulturellen und umweltbedingten Faktoren. Wichtig sind auch die Zeit, die mit dem Lernen verbracht wird, und die Möglichkeit, die erlernten Fähigkeiten direkt im Alltag anzuwenden. 

Dr. hab. Dorota Gierszewski – andragog. Hochschullehrerin, Forscherin, Ausbilderin, Gemeinschaftsorganisatorin. Sie arbeitet an der Jagiellonen-Universität Krakau. Interessengebiete: informelle Erwachsenenbildung, zivilgesellschaftliches Engagement, Migration, Interkulturalität. EPALE-Botschafterin.

Siehe auch:

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