Wellness, Wellbeing, Achtsamkeit - alles gut mit Erwachsenenbildung?


Man könnte behaupten, dass diese Szene seltsam aussieht: Eine Gruppe überwiegend mittelalter Frauen steht tief im Wald um einen dicken Baum herum, betrachten hingebungsvoll die Rinde des Stammes, streichelt die tiefen Furchen, atmet langsam und lungenspitzentief ein und aus. Waldbaden nennt sich das Angebot, das sich in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit erfreut. Früher ging man wahrscheinlich einfach eine Runde durch den Wald spazieren. Aber – zugegebenermaßen – diese Form der angeleiteten Meditation würde niemand alleine im Wald machen. So aber kommt man in den Genuss, wie es die Autorin und Ausbilderin für Waldbaden Annette Bernjus (https://waldbaden.blog) beschreibt, die vielfältigen Geräusche und Gerüche im Wald einmal in Ruhe zu erleben, die Sinne dafür zu schärfen, den reichlich vorhandenen Sauerstoff so intensiv wie möglich einzuatmen und in einen wohltuenden Entspannungszustand zu gelangen.
Wie Japaner das Waldbaden entdeckten
Ein japanische Forstwissenschaftler hatte während eines Aufenthaltes in Deutschland in den 70er Jahren bemerkt, dass die Deutschen gerne zur Erholung in den Wald gehen – was in Japan gar nicht üblich ist. Er regte an, dass auch seine Landleute Shinrin Yoku (=Wald Bad) machen sollten. Besonders in Japan wurde die Methode des Shinrin Yoku weiterentwickelt und seine positive Wirkung auf die Gesundheit wissenschaftlich bestätigt (Yoshifumi, M.: Shinrin Yoku – Heilsames Waldbaden, München 2018).
Während Waldbaden eine relativ unbekannte Methode ist, hat sich die „Achtsamkeit“ landauf landab in der Erwachsenenbildung, in hippen Großkonzernen oder Gesundheitsoasen als Wohlfühlprogramm für die gestresste Bevölkerung eingebürgert.
Von „sati“ zur „Achtsamkeit“
Der Begriff der „Achtsamkeit“ wurde erstmals von dem deutschstämmigen Mönch Nyanatiloka bei der Neuübersetzung einer buddhistischen Meditationsanleitung (Palikanon 1922/23) für den Begriff „sati“ (=sich erinnern, sich vergegenwärtigen, bewusst sein) verwendet. Vor diesem Hintergrund hat der amerikanische Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn Ende der 70er Jahre das „Mindfulness Based Stress Reduction“-Programm entwickelt. Er stellt den entsprechenden englischen Begriff „mindfulness“ ins Zentrum seines Ansatzes.
Jon Kabat-Zinn kam Mitte der 60er Jahre mit Meditation in Kontakt. 1979 erhielt er die Gelegenheit, Achtsamkeitsmeditation im Dienst der Stressreduktion anzubieten. Seine erste große Veröffentlichung erschien 1990 unter dem Titel „Full Catastrophe Living“ (deutsch 1991, „Gesunddurch Meditation“, aktuelle Ausgabe: München 2013, 2., überarbeitete Neuausgabe). Er hat die meditativ-spirituellen Traditionen in weltlich-säkularer Denk- und Sprachgestalt übertragen und ihre Bedeutung für die Gesundheitsbildung herausgearbeitet. Der Begriff „Stress“ diente ihm dabei als Brücke zwischen Gesundheitsbildung und Medizin. Inzwischen sind viele Bücher rund um Stressbewältigung und Achtsamkeit aus seiner Feder auf dem deutschen Markt.
Achte auf das leere Blatt
Wer auf ein Blatt Papier schaut, achtet zunächst auf die Formen und Farben, die darauf abgebildet sind – nicht aber auf das Papier selber, obwohl das weiße Blatt Papier der tragende Untergrund ist, ohne das die Formen nicht aufgezeichnet werden könnten. Die weiße Hintergrundfläche taucht im Bewusstsein meist gar nicht auf. Wir orientieren uns eben an den Unterscheidungsmerkmalen und achten nicht auf grundlegende, gleichbleibende Elemente. Stress entsteht, weil wir von unterschiedlichen Reizen und Aufgaben hin und her getrieben werden.
Das nun meint Achtsamkeit: die Übung sowie die Haltung, sich mit dem „weißen Blatt-Papier-Grund“ zu verbinden, sich darin zu verankern. Ein wesentlicher Teil der Achtsamkeitspraxis besteht darin, stresserzeugende, meist automatisierte Gedanken- und Gefühlsmuster aufzuspüren, sie sich aus einer inneren Distanz bewusst zu machen und schließlich abzulegen. Zu diesen Übungen gehören hauptsächlich Meditationen mit Körper- und Atemübungen, ein Verweilen und Betrachten, Lauschen, Geduld, ein Wahrnehmen ohne zu Urteilen. Und vor allem die Übung einer freundlichen und wohlwollende Grundhaltung anderen gegenüber als mitfühlende Zuwendung zum Leben, zu sich selbst und anderen Menschen.
High Level Wellness für alle

Mehr Wohlbefinden und weniger Stress werden nach diesem aus alter buddhistischer Tradition stammenden Modell erreicht, wer es lernt, eine bestimmte innere Haltung einzunehmen. Beim „Wellness“-Konzept kommen noch weitere Faktoren ins Spiel, die man ebenfalls für sich selber, aber letztlich auch übergreifend als gesellschaftliches System in Form von „Wellbeing“ lernen kann. So hat es jedenfalls Halbert L. Dunn (1896-1975) gemeint, der als Vater der Wellnessbewegung gilt. Er definierte Gesundheit als ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. Alle, vom einzelnen Individuum, über die Arbeitswelt, der Umwelt bis hin zur Gesamtgesellschaft haben nach Dunn das Ziel, ein „High Level Wellness“ zu entfalten.
In den 90er Jahren wurde nun der „Wellness“-Begriff vor allem von der Hotellerie und den Seebädern dankbar übernommen. Auch in der Erwachsenenbildung tummeln sich seither diverse private und öffentliche Träger mit entsprechenden Wohlfühl- und Beauty-Angeboten. Insgesamt wird der Umsatz in diesem Sektor mit rund 75 und 100 Milliarden Euro für den deutschen Markt geschätzt.
Wellbeing als Aufgabe für Staat und Gesellschaft
Die ursprüngliche Idee von Dunn hat viel mit dem zu tun, was oft als eine grundsätzliche Aufgabe von Staat und Gesellschaft gesehen wird: für ein Wohlbefinden, für Wohlstand oder Wellbeing zu sorgen. Dies wäre im Grund das, was Dunn mit „High Level Wellness“ meint. Bei dem Wellbeing spielt Bildung und Erwachsenenbildung eine nicht unwichtige Rolle. Finnland, dessen Erwachsenenbildungssystem regelmäßig als besonders vorbildlich bewertet wird, benennt „Wellbeing“ ausdrücklich als Aufgabe der Erwachsenenbildung (Liberal Adult Education), und der dritte Report über die Situation der Erwachsenenbildung in der Welt der UNESCO beschäftigt sich ausdrücklich mit diesem Thema („The Impact of Adult Learning and Education on Health and Well-Being“, 2016). Es hat sich nun nicht nur gezeigt, dass gesundheitsfördernde Bildung aller Art gut für den Menschen ist, sondern überhaupt es sich positiv auf den menschlichen Organismus und die Gesundheit auswirkt, wenn man möglichst lange lernt und so aktiv bleibt.
Bildung macht gesund
Der Zusammenhang von Bildung, Langlebigkeit, Einkommen und individuellem Wohlbefinden scheint besonders stark zu sein, wie die Demografieforschung jetzt in einer Langzeitstudie herausgefunden hat. Bildung sorgt für einen besseren, gesundheitsfördernden Lebensstil und eine ausgewogenere Work-Life-Balance (Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital: Lebenserwartung: Der Kopf ist wichtiger als das Portemonnaie. In: Demografische Forschung, 2019 Heft 2). Dieses Phänomen hat auch die Benefit-Forschung in der Erwachsenenbildung herausgefunden: Selbst Teilnehmer von IT-Kursen leben aufgrund nach als Wirkung der Teilnahme gesünder. Also: Egal, ob man lernt, wie man gesund bleibt oder etwas anderes. Hauptsache Erwachsenenbildung – und man bleibt gesund.
Quellen zu diesem Beitrag:
Alle in: Erwachsenenbildung 2020, Heft 3, siehe auf Epale: https://epale.ec.europa.eu/de/blog/neue-ausgabe-der-erwachsenenbildung-erschienen-wellbeing-damit-es-uns-gut-geht
Monika Kil: Keine Angst vor Nebenwirkungen – sich weiterbilden kann gesund sein! Die Effekte von Erwachsenenbildung gehen weit über den unmittelbaren Nutzen hinaus, S. 100-104
Joachim Thönnessen: Wellness für alle? – Rekonstruktion einer Entwicklung. Gemeinsames Lernen für die Gemeinschaft und das kulturelle Wachstum, S. 110-113
Michael Seitlinger: Die Übung der Achtsamkeit. Ursprung und Anwendung einer spirituellen Kultur des Bewusstseins, S. 130-132
Annette Bernjus: Ein wohltuendes Bad im Wald. Waldbaden: eine anerkannte Methode der Stressbewältigung und Gesundheitsförderung, S. 137
Über den Autor:
Dr. Michael Sommer ist Diplom-Journalist und war fünf Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter für Journalistik und Pädagogik. Seit 1993 ist er für die Akademie Klausenhof und die Katholische Erwachsenenbildung Deutschland (KEB) als Journalist, Pressereferent, verantw. Redakteur der Zeitschrift „Erwachsenenbildung“, in der medienpädagogischen Bildungsarbeit und in europäischen Projekten tätig. Er ist des Weiteren EPALE Botschafter.
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Danke für diesen wichtigen Beitrag