Richtungsweisend aber nicht makellos: UNESCO-Empfehlung zu Offenen Bildungsmaterialen und ihre Definition

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Neue OER-Definition der UNESCO
Offene Bildungsmaterialien erfahren zunehmend Aufmerksamkeit im Feld der (Erwachsenen-)Bildung. Grund dafür ist, dass insbesondere im Internet Vieles auffindbar ist, was im Bildungs- bzw. Unterrichtskontext zum Einsatz kommen könnte, aber erst einmal urheberrechtlich geschützt ist. Ohne Erlaubnis des Urhebers bzw. der Urheberin dürfen Texte, Bilder, Videos, Musik etc. nicht einfach kopiert und im Unterricht verwendet werden. Selbst wenn eine Autorin die eigenen Materialien explizit teilen möchte, muss sie ihr Werk auf eine bestimmte Weise kennzeichnen. Fehlt dies, muss ein potenzieller Nachnutzender immer eine Erlaubnisanfrage stellen. Dies ist zeitaufwändig und teils rechercheintensiv. Das Problem lässt sich durch eine eindeutige Lizenzierung beheben. Einige Lizenzen gelten dabei als „offen“. Materialien, die mit solch einer offenen Lizenz versehen sind, heißen Offene Bildungsmaterialien (Open Educational Resources, OER).
OER sind laut der Definition der vor Kurzem erschienenen UNESCO-Empfehlung „Lern-, Lehr- und Forschungsmaterialien, in jedem Format und Medium, die gemeinfrei sind oder urheberrechtlich geschützt und unter einer offenen Lizenz veröffentlicht sind, wodurch kostenloser Zugang, Weiterverwendung, Nutzung zu beliebigen Zwecken, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch Andere erlaubt wird.“
Diese Empfehlung zu OER ist am 25. November 2019 von der UNESCO-Generalkonferenz verabschiedet worden. Das Besondere ist, dass es sich dabei um das erste international anerkannte Dokument zu OER handelt und eine Handlungsempfehlung für die Mitgliedstaaten der UNESCO darstellt. Mit Verweis auf die Relevanz von offenen Bildungsmaterialien für das Nachhaltigkeitsziel 4 der Agenda 2030 – nämlich nachhaltige Entwicklung, inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen – werden verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen. So wird empfohlen, die Kompetenz bei allen zentralen Bildungsakteuren bezüglich Nutzung, Weiterverwendung und Erstellung von OER zu stärken sowie die Vergabe von offenen Lizenzen für öffentlich finanzierte Bildungs- und Forschungsmaterialien zu forcieren. Außerdem sollen inklusive, chancengerechte OER, die leichter für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind, gefördert sowie zukunftsfähige Modelle für OER entwickelt und eine internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet angestoßen werden.
Kritik an der UNESCO-Definition
Die Definition von OER, die das UNESCO-Dokument enthält, wurde allerdings – teilweise aufs Schärfste – kritisiert. Der Wortführer ist Dr. David Wiley, bekannter und bekennender OER-Verfechter, der die „5 V-Freiheiten“ von OER formuliert hat, auf die immer wieder Bezug genommen wird. Diese 5V-Freiheiten sind die fünf konstituierenden Merkmale von OER, die sich darin äußern, was ein Nachnutzender mit offenen Bildungsmaterialien machen darf: verwahren, verändern, vermischen, verwenden, verbreiten.

Wiley kritisiert in einem Blogbeitrag insbesondere, dass in der vorliegenden Definition die Erlaubnis zum „Verwahren“ und damit zum Anfertigen einer Kopie fehlt. Ursprünglich war diese im Entwurf der Empfehlung noch vorgesehen. Der verabschiedete Text definiert OER als Materialien, zu denen es einen kostenlosen Zugang gibt. Ohne allerdings die Erlaubnis und damit die Möglichkeit, eine Kopie zu erstellen (wobei z. B. das Herunterladen einer Datei einen Kopiervorgang darstellt), kann de facto auch keine Veränderung vorgenommen werden und auch die Verbreitung ist nicht möglich. Streaming-Dienste wie Netflix oder Spotify sind Beispiele dafür, wie Zugang ohne Möglichkeit zur eigenen Kopie umgesetzt wird.
Solch eine definitorische Lücke kann laut Wiley negative Konsequenz haben. So ist denkbar, dass die öffentliche Hand im Rahmen einer Ausschreibung der Empfehlung der UNESCO folgend und deren Definition nutzend die Herstellung von OER fordert. Ein Auftragnehmer könnte solche „OER“ erstellen und Zugang gewähren, aber das Anfertigen von Kopien explizit untersagen. Damit wäre es beispielsweise Lehrenden gestattet, das Material zu rezipieren, jede weitere Verwendung wäre extrem erschwert oder unmöglich. Ein Widerspruch zum OER-Gedanken. Der Auftragnehmer könnte versuchen, daraus Profit zu ziehen.
Als Erläuterung dafür, warum die Definition so und nicht anders lautet, bringen die Beteiligten hervor, dass es sich bei der Formulierung eines solchen Dokuments um einen langwierigen und schwierigen Aushandlungsprozess handelt, an dem in diesem Fall weit über 100 Personen mitgewirkt haben und der zur einstimmigen Annahme führen muss. Dabei wird betont, dass auf diesem Gebiet kundige Juristen mitgearbeitet und Stellungnahmen zu möglichen Interpretationen der Definition abgegeben haben. Eine Gefahr des Missbrauchs wird negiert, da die garantierten Rechte des Veränderns und des Verbreitens die Erlaubnis zur Kopieerstellung implizit beinhalten. Als pragmatische Vorgehensweise jenseits aller juristisch ausgeklügelten Interpretationen wird vorgeschlagen, für die Lizenzierung von offenen Bildungsmaterialien die ohnehin weit verbreiteten Creative-Commons-Lizenzen zu verwenden. Diese beinhalten in ihrem Vertragstext explizit die Erlaubnis zum „Verwahren“. Die UNESCO-Empfehlung wird als international richtungsweisend und damit als ein großer Fortschritt gesehen. Das Ziel sei nun, eine Umsetzung seitens der Mitgliedsstaaten zu forcieren.
Wollen Sie mehr über OER erfahren?
Schauen Sie in das OER-Dossier von wb-web rein oder auf die OER-Informationsplattform OERinfo. Dort finden Sie auch einen Veranstaltungskalender mit Terminen zu OER-Workshops, in denen sich Anfänger als auch Fortgeschrittene über Grundlagen, aber auch über aktuelle Entwicklungen informieren können. Eine gute Gelegenheit, sich mit OER auseinanderzusetzen, ist das OER Barcamp von EPALE Deutschland und dem ILI FAU: Kommen Sie am 04. und 05. März 2020 nach Fürth - Lernen Sie dort in Workshops den praktischen und kreativen Umgang mit OER und entwickeln Sie anschließend Ihre eigenen Ideen für eine zeitgemäße Bildung.
Über die Autorin: Dr. Magdalena Spaude ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V.
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