Jyri Manninen: Ist kontinuierliches Lernen die größte Gefahr für das lebenslange Lernen?
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Der Beitrag wurde ursprünglich in finnischer Sprache von Sivistystyön Vapaus ja Vastuu veröffentlicht und aus dem Englischen übersetzt.
Wir lassen uns gern von Schlagwörtern inspirieren. Wenn wir uns allerdings zu sehr vom Konzept des kontinuierlichen Lernens hinreißen lassen, werden möglicherweise geisteswissenschaftliche Kurse zu einer reinen Support-Leistung für die Weiterentwicklung der Arbeitswelt.
In den 1970er Jahren wurde in einem UNESCO-Bericht eine amüsante Feststellung zum „offenen Lernen“, einem Schlagwort der damaligen Zeit, getroffen:
„... eine ungenaue Formulierung, der eine Reihe von Bedeutungen zugeschrieben werden können und auch werden... Einer Definition wird ausgewichen. Aber als Aufschrift auf einem Banner bei einer Prozession, die Anhänger und Enthusiasten anzieht, hat sie großes Potenzial.“
Das aktuelle Schlagwort in Finnland lautet „kontinuierliches Lernen“. Dazu passt das Zitat aus dem UNESCO-Text sehr gut, da diejenigen, die es sich jetzt auf ihre Fahnen geschrieben haben, einen ganz neuen Enthusiasmus für die Entwicklung der Erwachsenenbildung an den Tag legen. Und das ist auch gut so. Es gibt Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die beruflichen Kompetenzen der Menschen im erwerbsfähigen Alter: Die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung nimmt im Laufe eines Jahres an keinerlei organisierten Erwachsenenbildungsmaßnahmen teil, während für bestimmte Bildungsniveaus und berufliche Positionen eine gehäufte Teilnahme an solchen Veranstaltungen zu verzeichnen ist.
Das kontinuierliche Lernen ist jedoch ganz klar definiert: Weiterentwicklung der berufsbezogenen Kompetenzen von Menschen im erwerbsfähigen Alter. Vor lauter Enthusiasmus gerät diese Definition häufig in Vergessenheit, was gewisse Probleme oder zumindest einige merkwürdige Phänomene zur Folge hat.
SYMPATHISCHER ENTHUSIASMUS FÜR ERWACHSENENBILDUNG
Der neue Enthusiasmus für Erwachsenenbildung ist zwar etwas merkwürdig, aber doch sympathisch. Die etwas Älteren unter uns werden sich daran erinnern, dass dies keinesfalls der erste Versuch ist, die Welt zu verbessern. Genau diese Entwicklungsarbeit geschieht bereits seit den 1950er Jahren und orientiert sich jeweils an den unterschiedlichen Konzepten der verschiedenen Zeiten. Man kann selbst eigene Konzepte erstellen, indem man die Begriffe „kontinuierlich, wiederholt, lebenslang und regelmäßig“ auf unterschiedliche Weise mit den Begriffen „Bildung, Weiterbildung und Lernen“ kombiniert.
Das Jahr 1996 war das Europäische Jahr des lebenslangen Lernens. Ziel des finnischen Noste-Programms (2003–2009) war es, das Kompetenzniveau derjenigen Arbeitskräfte zu erhöhen, die keine Qualifikationen besaßen, und 2009 wurde eine Hochschulcharta für lebenslanges Lernen festgeschrieben.
Es folgte eine Übergangszeit, in der versucht wurde, das lebenslange Lernen und das damit verbundene Konzept aktiv zu vergessen. So wurden beispielsweise die Positionen für lebenslanges Lernen im Ministerium für Bildung und Kultur und in der finnischen Nationalen Bildungsagentur nicht mehr besetzt, der Rat für lebenslanges Lernen im Ministerium nach 2015 nicht mehr einberufen, die Trainingsprogramme für Erwachsene in Aus- und Weiterbildung beendet und die Weiterbildungszulage für Erwachsene gekürzt. Daraufhin ging die Teilnahme an der Erwachsenenbildung 2017 erstmals seit 35 Jahren um 5 % zurück. Einen noch größeren Rückgang verzeichnete die Teilnahme an der freizeitbezogenen Erwachsenenbildung (bei Frauen von 26 % auf 19 % und bei Männern von 11 % auf 9 %). Darüber hinaus begannen die Hochschulen ab 2008 mit dem Abbau ihrer Weiterbildungszentren, den besten in Europa, die sie seit den 1980er Jahren mit großem Einsatz aufgebaut hatten.
Derzeit findet ein Wettlauf um die Neuerfindung desselben Rades statt, da das „kontinuierliche Lernen“ Teil des Finanzierungsmodells der Hochschulen geworden ist. Geld scheint eine gute Motivation zu sein, sich den Ausbildungsmöglichkeiten für Erwachsene wieder zuzuwenden.
KONTINUIERLICHES LERNEN — GEFAHR ODER CHANCE?
Probleme entstehen, wenn die Akteur*innen und Player im Bildungsbereich und diejenigen, die die Bildung weiterentwickeln, sich dazu hinreißen lassen, das neue Konzept zu verwenden, ohne sich über seine Inhalte im Klaren zu sein, oder es als Synonym für lebenslanges Lernen und als Grundlage für die Weiterentwicklung der Erwachsenenbildung verwenden. Auch die Reformen an den Hochschulen im Zeichen des „kontinuierlichen Lernens“ weisen einige Merkmale auf, die in die Richtung „kontinuierliches Studieren“ gehen, wenn sie sich hauptsächlich auf eine Ausweitung der Studienberechtigungen konzentrieren.
Wenn die Arbeitswelt zu sehr in den Mittelpunkt rückt, kann dies auch dazu führen, dass die Geisteswissenschaften leiden oder auf eine Support-Leistung für die Entwicklung arbeitsbezogener Kompetenzen reduziert werden. Andere Angebote im Bereich Allgemeinbildung, Community-Education, Trainingsaktivitäten von NRO, Hochschulen für Senior*innen und weitere Aktivitäten, die nicht zur engen Definition des kontinuierlichen Lernens (oder zum Finanzierungsmodell) passen, bleiben ebenfalls außen vor. Die traditionelle finnische Sicht auf das Allgemeinwissen und die Bildung (folkbildning) wird durch das kontinuierliche Studieren ersetzt.
Es ist auch sehr amüsant, dass Beschäftigte im Bildungssektor und sogar Mitarbeiter*innen staatlicher Stellen die Konzepte mitunter durcheinanderbringen. So zeigt sich beispielsweise der Verband der finnischen lokalen und regionalen Gebietskörperschaften begeistert darüber, dass es beim „kontinuierlichen Lernen um Kompetenz und Kreativität während des gesamten Lebens“ geht. Und in der liberalen Erwachsenenbildung wird ein Kurs in „Bildender Kunst mit Schwerpunkt auf kontinuierlichem Lernen“ angeboten.
Foto: Pixabay
Über den Autor
Jyri Manninen ist Professor für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Universität Ostfinnland. Seine Forschungsbereiche sind die Vorteile von liberaler Erwachsenenbildung, Lernumgebungen, Teilnahme an der Erwachsenenbildung und die Wirksamkeit von Bildung. Zudem war er viele Jahre in der Lehre und Ausbildung an den Universitäten Helsinki und Ostfinnland und deren offenen Hochschulen und Fachbereichen für Weiterbildung tätig.
Foto: Varpu Heiskanen, UEF
Der Text wurde zuerst am 12. Januar 2021 auf Finnisch im Blog des Forschungsprogramms SVV – Freedom and Responsibility of Liberal Adult Education veröffentlicht. Für die Übersetzung des Texts zeichnet EPALE Finnland verantwortlich.
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Das Forschungsprogramm Freedom and Responsibility of Liberal Adult Education (SVV) veröffentlicht 2021 einen Blog mit dem Titel Sivistystori. In diesem Blog schreiben Forscher*innen und Fachleute aus dem Bereich der liberalen Erwachsenenbildung und Partner*innen des SVV mit Interesse an Allgemeinwissen und Bildung über ihre Bildungsarbeit und die Bedeutung von Allgemeinwissen und Bildung in der Gesellschaft. Der Blog wird etwa einmal wöchentlich auf der SVV-Website veröffentlicht.
Text: Jyri Manninen
Kommentar
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A volunteer who manages the social media presences of a club can take advantage of open learning opportunities, maybe she books a some-day social media course, maybe she deepens her knowledge with a certificate course. Or she may find help and inspiration in sharing with others on social networks. Informal, networked learning can thus provide access to formal continuing education - but it's not a must for learners. That's a big difference. And if learning "only" serves to make people feel comfortable, then any society is already greatly benefited.
Thank you for your great post.
It made me think of the UIL report "Embracing a culture of lifelong learning".
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