Erwachsenenbildung: vom Lernen zur Partizipation und von der Partizipation zum Lernen


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Originalsprache: Englisch
Silvia Tursi vom Europäischen Verband für Erwachsenenbildung (EAEA) über die Rolle der Erwachsenenbildung als Weg zur aktiven gesellschaftlichen Beteiligung.
Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass das traditionelle Regierungskonzept mehr und mehr durch Lenkungs- und Steuerungsmöglichkeiten ersetzt und zugleich die direkte Demokratie gestärkt wird. Damit verbunden wird von den Bürgerinnen und Bürgern immer mehr aktive Beteiligung in ihrer Gesellschaft erwartet, und dies gilt nicht nur im politischen Bereich, sondern auch im täglichen allgemeinen Miteinander.
Die PIAAC-Studie belegte einen eindeutigen Zusammenhang zwischen „Vertrauen“ und „politischer Wirkungskraft“ und dem bestehenden Kompetenzniveau. So korreliert ein geringes Niveau an Grundkompetenzen unmittelbar mit einem geringen Vertrauen in Institutionen und in deren Fähigkeit, Veränderungen in der Gesellschaft erwirken zu können.
Erwachsenenbildung und bürgerschaftliches Engagement
Die Bedeutung der Bildung als entscheidender Faktor, der auf unterschiedliche Formen der politischen Partizipation schließen lässt, wird in verschiedenen Studien hervorgehoben. Die Erwachsenenbildung scheint bei der Förderung einer aktiven Bürger/innenschaft eine entscheidende Rolle einzunehmen, und zwar nicht nur bei Menschen mit einem geringen Kompetenzniveau, sondern bei allen, die aufgerufen sind, sich gesellschaftlich einzubringen.
Wie genau jedoch eine aktive Bürger/innenschaft durch die Erwachsenenbildung gefördert wird, spiegelt unterschiedliche Perspektiven wider, die auf verschiedenen Ansätzen und Initiativen basieren.
Einerseits wird in der Erwachsenenbildung der Standpunkt vertreten, das Lernen sei notwendige Voraussetzung, um Zugang zur Beteiligung an demokratischen Prozessen zu erhalten. In diesem Fall kann das Lernen unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigen: die Entwicklung von Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen, die Verbesserung von Grundkompetenzen, die die Partizipation am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, sowie Schulungsmaßnahmen und Diskussionen zu spezifischen politischen Problemen und Themen. Damit wird impliziert, dass die Menschen zuerst einige partizipatorische Kompetenzen entwickeln sollten, bevor sie Kompetenzen für eine aktive Bürger/innenschaft erlernen und ihre Standpunkte entsprechend artikulieren können. Weiterhin legt diese Perspektive nahe, diese Menschen sollten darin bestärkt werden, die Kompetenzen zu erwerben und zu entfalten, die nach Ansicht der „allgemeinen rationalen Gemeinschaft“ guten Bürgerinnen und Bürgern zugesprochen werden. Diese Vision geht von einer bestehenden Norm aus, die definiert, was eine gute Bürgerin und einen guten Bürger ausmacht.
Andererseits unterstützt die Erwachsenenbildung eine Vision, die das Lernen selbst als Form einer gesellschaftlichen Beteiligung und nicht nur als vorbereitendes Instrument für eine solche Partizipation betrachtet. Diese Perspektive unterstützt die These der Bürger/innenschaft als Engagement in der „praxisbezogenen Gemeinschaft“ und die aktive Beteiligung an gemeinschaftlichen Aktivitäten.
Beispiele für Lernen als Instrument für eine aktive Beteiligung
Lire et Écrire
Ein Beispiel aus der Praxis, in dem das Lernen selbst als Instrument für den Zugang zur aktiven Beteiligung dient, findet sich in der belgischen Initiative Lire et Écrire. Diese bot unter dem Schlagwort „Willkommenspaket für Belgien“ Infos zu verschiedenen, für das praktische Alltagsleben in Belgien relevanten Themen an, wie gemeinschaftliches Miteinander, Wohnen, Gesundheit, Bildung, Beschäftigungsverhältnis und soziale Absicherung, das Leben im Alltag, Aufenthaltsstatus und Migration sowie Institutionen. Das Paket richtet sich vor allem an Menschen, die erst seit Kurzem in Belgien leben, aber auch an Personen mit kultureller belgischer Identität. Es soll dabei zur Reflexion über die Gesellschaft anregen mit dem Ziel, eine aktive gesellschaftliche Partizipation zu fördern.
Das „Volkstreffen“
Häufig werden bei der Entwicklung von Projekten und Initiativen die beiden Perspektiven miteinander verknüpft. Ein interessantes Beispiel dafür ist das „Volkstreffen“’, Folkemødet, das seit 2011 in Bornholm, Dänemark, stattfindet. Diese Veranstaltung bietet auf ganz spezielle Weise die Möglichkeit, Ideen zur Demokratie, aktiven Bürger/innenschaft und non-formalen Erwachsenenbildung zu feiern, zu fördern und zu entwickeln.
Das „Volkstreffen“ bietet als politisches Festival eine Plattform für offene Debatten zwischen Vertreterinnen und Vertretern aus der Politik, aus Unternehmen und aus Nichtregierungsorganisationen sowie Bürgerinnen und Bürgern. Ziel ist die Stärkung der Demokratie und des Dialogs im Land mit kostenfreien informellen Seminaren und Meetings. Die Initiative wird zwar von den Behörden von Bornholm koordiniert, praktisch wird sie jedoch von Organisationen, politischen Parteien und Gruppen organisiert, die sich damit aktiv in die Veranstaltung einbringen möchten. So betrachtet sind auch die Teilnehmenden Teil der Organisation und damit ein gelebtes Beispiel für die Demokratie in der Praxis.
100 Steps Towards Finnish Future
Mit einem ähnlichen Ansatz verfolgt das finnische Projekt „100 Steps Towards Finnish Future“ eine neue Lernmethode zur Bürger/innenschaft innerhalb der Erwachsenenbildungskultur. Die Kernidee war, Menschen unabhängig von ihrem Alter und Hintergrund in Erwachsenenbildungszentren vor Ort im Rahmen von gesellschaftlichen Diskussionen zusammenzubringen. Die Diskussionen standen allen offen und wurden geplant, um die Erwachsenenbildungszentren und ihre Arbeit neuen Zielgruppen von Teilnehmenden vorzustellen. Alle interessierten Zentren wurden eingeladen, sich an dem Projekt zu beteiligen. Die Begeisterung für die Initiative war schließlich so groß, dass statt der ursprünglich geplanten zehn Veranstaltungen schließlich 29 Diskussionen organisiert wurden.
Die Ergebnisse aus den Diskussionen wurden den Entscheidungsträgern der einzelnen Städte übermittelt, in denen die Diskussionen stattgefunden hatten. Den Bürgerinnen und Bürgern wurde wiederum ein Ansatzpunkt dafür geboten, mit der Verbesserung ihrer partizipatorischen Kompetenzen zu beginnen.
Diese Beispiele bieten einen Überblick über die unterschiedlichen Ansätze, die in der Erwachsenenbildung verfolgt werden können, um eine aktive Bürger/innenschaft zu fördern und Menschen aufzufordern, ihre Kompetenzen, die für eine aktive gesellschaftliche Beteiligung erforderlich sind, zu entwickeln, zu fördern, zu verbessern und immer wieder in der Praxis einzusetzen.
Welche Ideen haben Sie zu den Lernmethoden für eine aktive Bürger/innenschaft und wie werden diese in Ihrer Organisation eingesetzt, um den Menschen die Möglichkeit zu bieten, eine aktive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen? Teilen Sie uns unten Ihre Kommentare mit.
Silvia Tursi ist politische Assistentin im Europäischen Verband für Erwachsenenbildung (EAEA). Sie hat ein Studium in den Fächern Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen mit weiterführenden Studiengängen im Bereich der Erwachsenenbildung absolviert. Sie war als Trainerin in europäischen Projekten sowie als Projektassistentin in unterschiedlichen Organisationen tätig.
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