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Jonas Ahlskog: Die Rückkehr der nicht-formalen Bildung in den gesellschaftlichen Diskurs der nordischen Länder

Die nicht-formale Bildung sollte ein selbstkritischer Prozess sein, eine Form des radikalen Hinterfragens dessen, was wir in unserem Leben für wirklich sinnvoll und wichtig halten.

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Der Beitrag wurde ursprünglich in finnischer Sprache von Linda JUNTUNEN eingestellt. Die englische Sprachversion diente als Grundlage für diese Übersetzung.


Die nicht-formale Bildung sollte ein selbstkritischer Prozess sein, eine Form des radikalen Hinterfragens dessen, was wir in unserem Leben für wirklich sinnvoll und wichtig halten.

Gibt es heutzutage Gründe, warum man für die Rückkehr der nicht-formalen Bildung plädieren sollte? Ja - dieser Meinung ist eine breite Front aus Diskussionsführer*innen und Intellektuellen in den nordischen Ländern. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die nicht-formale Bildung als verstaubt und altmodisch, doch mittlerweile zeugen unzählige Aufsätze, Diskussionsschriften und Bücher davon, dass die Idee der nicht-formalen Bildung im gesellschaftlichen Diskurs der nordischen Länder wieder positiv besetzt ist. Folglich hat man dieses Konzept erneut aufgegriffen und bedient sich seiner, um alles – von der Rationalisierung über Meinungskorridore in der Gesellschaft und autoritären Populismus bis hin zum Raubbau an der Umwelt –anzugehen. In diesem Zusammenhang sehen einflussreiche Diskussionsführer*innen aus den nordischen Ländern die freie Suche nach Wissen in der nicht-formalen Bildung als ein wesentliches Instrument zur Verteidigung der Demokratie in einem modernen Umfeld, das von Phänomen wie Faktenresistenz und Polarisierung geprägt ist.

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IN SCHWEDEN: NICHT-FORMALE BILDUNG IN DER HAUPTSENDEZEIT

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Am intensivsten wird über die nicht-formale Bildung in Schweden diskutiert. Im Svenska Dagbladet erschienen in letzter Zeit 45 Artikel zum Thema „Debatte über die nicht-formale Bildung“. Doch die einschlägigen Diskussionen finden nicht nur in der Tagespresse statt: Von Think-Tank-Seminaren bis hin zu Prominenten in der Hauptsendezeit im Fernsehen befassen sich derzeit alle mit Fragen zur Angemessenheit und Rolle der nicht-formalen Bildung. In unserem westlichen Nachbarland Schweden wurde die Diskussion über die nicht-formale Bildung, anders als sonst, auch durch die Art von Uneinigkeit angeheizt, von denen jede kritische und konstruktive gesellschaftliche Diskussion lebt. Man ist alles andere als einer Meinung darüber, worin nicht-formale Bildung heute bestehen sollte, jedoch allgemein der Ansicht, dass es bei der laufenden Diskussion um entscheidende gesellschaftliche Fragen unserer Zeit geht. Im Rahmen der Debatte über die nicht-formale Bildung ist daher Platz sowohl für die Ablehnung dieses Ideals als bürgerlicher, patriarchaler Code auswendig gelernten Wissens, wie es der Schriftsteller Aase Berg formuliert, als auch für Sverker Sörlins Lob der nicht-formalen Bildung als wertvoller Schatz der Zivilgesellschaft.

Was sind die Gründe für die grandiose Rückkehr des Konzepts der nicht-formalen Bildung in Schweden? Das Interesse an diesem Thema lässt sich teilweise dadurch erklären, dass Bildung und Schule seit langem politische Schlachtfelder darstellen und die Frage der nicht-formalen Bildung sich leicht mit den Diskussionen über die schwankenden PISA-Ergebnisse Schwedens verknüpfen lässt. Doch die Verknüpfung mit dem Thema Schule liefert keine vollständige Antwort. Denn in den letzten Jahren ging es dabei auch um Probleme, die über die Reform des Schulsystems hinausgehen, nämlich die Rolle der nicht-formalen Bildung für das Überleben der demokratischen Gesellschaft. Diese Wende bei der Diskussion über die nicht-formale Bildung ist eine direkte Reaktion auf die rasch zunehmende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Polarisierung und den damit einhergehenden Aufschwung des autoritären Populismus – ein weitreichender Prozess, der im Zuge der Finanzkrise von 2008 nicht nur Schweden, sondern die gesamte westliche Welt, getroffen hat.

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IN FINNLAND DAGEGEN: INTERESSANTE BÜCHER ÜBER DIE NICHT-FORMALE BILDUNG, ABER WO BLEIBT DER BREITE GESELLSCHAFTLICHE DISKURS?

Wird in Finnland auch über die nicht-formale Bildung debattiert? Wenn damit eine breit angelegte Diskussion wie in Schweden gemeint ist, lautet die Antwort „nein“. Es gibt jedoch klare Anzeichen dafür, dass sie in Kürze beginnt.

Einerseits deuten die Zeichen auf eine zunehmende themenspezifische Diskussion über die Bedeutung der liberalen Erwachsenenbildung für die Demokratie hin, wie das Buch „Vapaa sivistystyö: eilen, tänään ja huomenna“ (2019) zeigt, in dem eine Metaanalyse vorgenommen wird und Forscher*innen und Akteur*innen aus diesem Bereich die Rolle der liberalen Erwachsenenbildung bei der Förderung der Demokratie beleuchten. Andererseits findet auch zunehmend eine allgemeine Diskussion über die gesellschaftliche Bedeutung der nicht-formalen Bildung statt, beispielsweise in dem Buch „Sivistyksen puolustus“ (2018) von Sari Kivistö und Sami Pihlström, in dem es um die demokratischen Bemühungen von Hochschulen geht, sowie in dem bekannten Buch über nicht-formale Bildung und nachhaltige Entwicklung „Sivistys vaurautena“ (2020) von Maria Joutsenvirta und Arto O. Salonen. Zur Förderung der Diskussion in Finnland hat Sitra das Projekt Bildung+ auf den Weg gebracht, und um eine Diskussion über die Bedeutung der nicht-formalen Bildung in Schweden anzustoßen, wird im Frühjahr dieses Jahres ein Projekt starten, das der Verfasser dieses Beitrags in Zusammenarbeit mit Svenska folkskolans vänner rf initiiert hat.

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DOCH WORÜBER SOLLTEN WIR SPRECHEN, WENN VON NICHT-FORMALER BILDUNG DIE REDE IST?

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Wenn eine Diskussion über nicht-formale Bildung stattfinden soll, worum sollte es dabei gehen? Meiner Meinung nach sollte hier eine wichtige Unterscheidung vorgenommen werden: Die Diskussion sollte sich nicht auf nicht-formale Bildung als Mittel, um die sogenannten „schlimmen Probleme“ unserer Zeit anzugehen, beschränken. Das Problem besteht darin, dass das Konzept der nicht-formalen Bildung Gefahr läuft, nur als Schlagstock in der gesellschaftlichen Diskussion benutzt zu werden: Als ihr Ideal gilt die Förderung von Demokratie und einer progressiven Klimapolitik – und jeder, der von diesen Idealen abweicht, ist per definitionem ungebildet. Diese Art der Diskussion der „nicht-formalen Bildung“ geht davon aus, dass wir die Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit schon kennen. Das einzige Problem besteht darin, wie wir die Dissident*innen davon überzeugen können, an uns zu glauben, und dass unsere Verweise auf die „nicht-formale Bildung“ den Abstand von „uns“ zu „ihnen“ oft eher vergrößern als verkleinern.

Statt uns 2021 nur auf das Ideal der nicht-formalen Bildung zu konzentrieren, sollten wir sie auch als selbstkritischen Prozess diskutieren – eine Form des radikalen Hinterfragens dessen, was wir in unserem Leben für wirklich sinnvoll und wichtig halten. Durch diese radikale, persönliche Frage können wir uns dann solchen gesellschaftlichen Fragen zuwenden, wie die Demokratie gefördert und das Klima gerettet werden kann.

Wir brauchen aber andere Begriffe, um die grundlegende existenzielle Dimension des Ideals der nicht-formalen Bildung zu bekräftigen: Was sind wir jetzt und was möchten wir sein? Der wichtigste Aspekt jeder Diskussion über nicht-formale Bildung ist es, diese existenzielle Frage zum Leben zu erwecken, bei uns selbst und bei anderen, um eine derart offene Frage gemeinsam zu beantworten. Dies zeigt uns gleichzeitig auch, dass Diskussionen über dieses Thema uns vor beängstigende Herausforderungen stellen können: Sind wir wirklich bereit, offen mit Andersdenkenden zu diskutieren, und wagen wir es, unsere üblichen Vorgehensweisen infrage zu stellen? Wenn die Antwort „ja“ lautet, können die Diskussionen über nicht-formale Bildung wirklich etwas verändern.

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Über den Autor

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Jonas Ahlskog forscht an der Åbo Akademi University im Bereich Philosophie und Geschichte und ist Experte der Svenska folkskolans vänner rf. Außerdem war er Direktor des Folkets Bildningsförbund rf (2010-2020), einem Verein im Bereich der liberalen Erwachsenenbildung, der im schwedischsprachigen Teil Finnlands Diskussionsveranstaltungen, Philosophie-Cafés und Seminare organisiert. Er interessiert sich für nicht-formale Bildung, weil diese uns darüber nachdenken lässt, was wir sind und was wir sein möchten. Sein besonderes Interesse gilt der Frage, wie die liberale Erwachsenenbildung unser Verständnis von uns selbst und somit der Gesellschaft als Ganzes verändern kann. Arbeit und Freizeit vermischen sich bei ihm häufig, und er verbringt seine freie Zeit hauptsächlich mit Lesen und dem Verfolgen der Medien zu Themen wie Philosophie, Geschichte, Kultur, Literatur und gesellschaftlichem Dialog.

 

 

Bilder: Pixbay, Eric Johnson-Debaufre

Das Forschungsprogramm Freedom and Responsibility of Liberal Adult Education (SVV) veröffentlicht einmal wöchentlich einen Beitrag im Blog Sivistystori. In diesem Blog verfassen die Partner*innen von SVV, Forscher*innen und Experten aus der liberalen Erwachsenenbildung in drei verschiedenen Sprachen Beiträge zum Thema nicht-formale Bildung und liberale Erwachsenenbildung. Erklärtes Ziel des Blogs ist es, auch kritische Stimmen in den gesellschaftlichen Diskurs einfließen zu lassen.

 

 

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