Jonas Ahlskog: Die Rückkehr der nicht-formalen Bildung in den gesellschaftlichen Diskurs der nordischen Länder
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Der Beitrag wurde ursprünglich in finnischer Sprache von Linda JUNTUNEN eingestellt. Die englische Sprachversion diente als Grundlage für diese Übersetzung.
Die nicht-formale Bildung sollte ein selbstkritischer Prozess sein, eine Form des radikalen Hinterfragens dessen, was wir in unserem Leben für wirklich sinnvoll und wichtig halten.
Gibt es heutzutage Gründe, warum man für die Rückkehr der nicht-formalen Bildung plädieren sollte? Ja - dieser Meinung ist eine breite Front aus Diskussionsführer*innen und Intellektuellen in den nordischen Ländern. Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die nicht-formale Bildung als verstaubt und altmodisch, doch mittlerweile zeugen unzählige Aufsätze, Diskussionsschriften und Bücher davon, dass die Idee der nicht-formalen Bildung im gesellschaftlichen Diskurs der nordischen Länder wieder positiv besetzt ist. Folglich hat man dieses Konzept erneut aufgegriffen und bedient sich seiner, um alles – von der Rationalisierung über Meinungskorridore in der Gesellschaft und autoritären Populismus bis hin zum Raubbau an der Umwelt –anzugehen. In diesem Zusammenhang sehen einflussreiche Diskussionsführer*innen aus den nordischen Ländern die freie Suche nach Wissen in der nicht-formalen Bildung als ein wesentliches Instrument zur Verteidigung der Demokratie in einem modernen Umfeld, das von Phänomen wie Faktenresistenz und Polarisierung geprägt ist.
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IN SCHWEDEN: NICHT-FORMALE BILDUNG IN DER HAUPTSENDEZEIT
Was sind die Gründe für die grandiose Rückkehr des Konzepts der nicht-formalen Bildung in Schweden? Das Interesse an diesem Thema lässt sich teilweise dadurch erklären, dass Bildung und Schule seit langem politische Schlachtfelder darstellen und die Frage der nicht-formalen Bildung sich leicht mit den Diskussionen über die schwankenden PISA-Ergebnisse Schwedens verknüpfen lässt. Doch die Verknüpfung mit dem Thema Schule liefert keine vollständige Antwort. Denn in den letzten Jahren ging es dabei auch um Probleme, die über die Reform des Schulsystems hinausgehen, nämlich die Rolle der nicht-formalen Bildung für das Überleben der demokratischen Gesellschaft. Diese Wende bei der Diskussion über die nicht-formale Bildung ist eine direkte Reaktion auf die rasch zunehmende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Polarisierung und den damit einhergehenden Aufschwung des autoritären Populismus – ein weitreichender Prozess, der im Zuge der Finanzkrise von 2008 nicht nur Schweden, sondern die gesamte westliche Welt, getroffen hat.
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IN FINNLAND DAGEGEN: INTERESSANTE BÜCHER ÜBER DIE NICHT-FORMALE BILDUNG, ABER WO BLEIBT DER BREITE GESELLSCHAFTLICHE DISKURS?
Wird in Finnland auch über die nicht-formale Bildung debattiert? Wenn damit eine breit angelegte Diskussion wie in Schweden gemeint ist, lautet die Antwort „nein“. Es gibt jedoch klare Anzeichen dafür, dass sie in Kürze beginnt.
Einerseits deuten die Zeichen auf eine zunehmende themenspezifische Diskussion über die Bedeutung der liberalen Erwachsenenbildung für die Demokratie hin, wie das Buch „Vapaa sivistystyö: eilen, tänään ja huomenna“ (2019) zeigt, in dem eine Metaanalyse vorgenommen wird und Forscher*innen und Akteur*innen aus diesem Bereich die Rolle der liberalen Erwachsenenbildung bei der Förderung der Demokratie beleuchten. Andererseits findet auch zunehmend eine allgemeine Diskussion über die gesellschaftliche Bedeutung der nicht-formalen Bildung statt, beispielsweise in dem Buch „Sivistyksen puolustus“ (2018) von Sari Kivistö und Sami Pihlström, in dem es um die demokratischen Bemühungen von Hochschulen geht, sowie in dem bekannten Buch über nicht-formale Bildung und nachhaltige Entwicklung „Sivistys vaurautena“ (2020) von Maria Joutsenvirta und Arto O. Salonen. Zur Förderung der Diskussion in Finnland hat Sitra das Projekt Bildung+ auf den Weg gebracht, und um eine Diskussion über die Bedeutung der nicht-formalen Bildung in Schweden anzustoßen, wird im Frühjahr dieses Jahres ein Projekt starten, das der Verfasser dieses Beitrags in Zusammenarbeit mit Svenska folkskolans vänner rf initiiert hat.
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DOCH WORÜBER SOLLTEN WIR SPRECHEN, WENN VON NICHT-FORMALER BILDUNG DIE REDE IST?
Statt uns 2021 nur auf das Ideal der nicht-formalen Bildung zu konzentrieren, sollten wir sie auch als selbstkritischen Prozess diskutieren – eine Form des radikalen Hinterfragens dessen, was wir in unserem Leben für wirklich sinnvoll und wichtig halten. Durch diese radikale, persönliche Frage können wir uns dann solchen gesellschaftlichen Fragen zuwenden, wie die Demokratie gefördert und das Klima gerettet werden kann.
Wir brauchen aber andere Begriffe, um die grundlegende existenzielle Dimension des Ideals der nicht-formalen Bildung zu bekräftigen: Was sind wir jetzt und was möchten wir sein? Der wichtigste Aspekt jeder Diskussion über nicht-formale Bildung ist es, diese existenzielle Frage zum Leben zu erwecken, bei uns selbst und bei anderen, um eine derart offene Frage gemeinsam zu beantworten. Dies zeigt uns gleichzeitig auch, dass Diskussionen über dieses Thema uns vor beängstigende Herausforderungen stellen können: Sind wir wirklich bereit, offen mit Andersdenkenden zu diskutieren, und wagen wir es, unsere üblichen Vorgehensweisen infrage zu stellen? Wenn die Antwort „ja“ lautet, können die Diskussionen über nicht-formale Bildung wirklich etwas verändern.
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Über den Autor
Bilder: Pixbay, Eric Johnson-Debaufre
Das Forschungsprogramm Freedom and Responsibility of Liberal Adult Education (SVV) veröffentlicht einmal wöchentlich einen Beitrag im Blog Sivistystori. In diesem Blog verfassen die Partner*innen von SVV, Forscher*innen und Experten aus der liberalen Erwachsenenbildung in drei verschiedenen Sprachen Beiträge zum Thema nicht-formale Bildung und liberale Erwachsenenbildung. Erklärtes Ziel des Blogs ist es, auch kritische Stimmen in den gesellschaftlichen Diskurs einfließen zu lassen.