Digitale Lesekompetenz und digitale Kultur in der Stadtbibliothek Stuttgart

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Bericht zur Lage der deutschen Bibliotheken im Bereich „digitaler Wandel“

Auf die Digitalisierung reagiert das Öffentliche Bibliothekswesen bis heute überwiegend mit Aussagen wie "Google ist der bessere Bibliothekar" und ähnlich affirmativen Sentenzen. Oder aber mit Behauptungen, wie der Einsatz eines neuen Gadgets, einer neuen Software, einer Social-Media-Plattform oder eines Computerspiels sei die Voraussetzung, um mit dem „digitalen Wandel“ schrittzuhalten. Die Formulierung des „Getriebenseins“ und die oftmals unkritische Haltung sind im Bibliothekswesen symptomatisch.
Soziale Medien als „Ausbeutung der Freiheit“

Bibliotheksangebote, die diese Kontrollstrukturen und Kommodifizierung – also die Kommerzialisierung ihrer gemeinnützigen Angebote – nicht reflektieren, sind ein fahrlässiges Oberflächenspiel. Fahrlässig auch deshalb, weil damit gegen das Bibliotheksziel der Vermittlung einer reflektierten Nutzung von Medien verstoßen wird.
Social Media sind ein Desaster für Datenschutz, Datenkontrolle und Datenbewusstsein und damit wird deren unbedachter Einsatz ein potentieller künftiger Imageschaden für die Bibliothek.
Inke Arns, Autorin und Kuratorin im Bereich Medienkunst, erkennt vier Komplexe, die unsere digitalen Oberflächen bestimmen:
1. Kontrolle
2. Urheberrecht
3. Code
4. Kommodifizierung
Damit sollte sich das Bibliothekswesen auseinandersetzen. [2]
In Stuttgart wurde bereits vor über 10 Jahren ein dreistufiges Konzept zur Vermittlung von digitaler Lesekompetenz erarbeitet. In den Kernsätzen der Stadtbibliothek heißt es: „Die Stadtbibliothek Stuttgart ist die Schnittstelle zu digitalen Entwicklungen und zur digitalen Kultur. Unter dem Begriff „digitale Lesekompetenz“ schaut die Stadtbibliothek Stuttgart unter die glänzenden Medienoberflächen. Sie thematisiert die Nutzungsqualitäten und Auswirkungen der digitalen Medien sowie die gesellschaftlichen und persönlichen Konsequenzen.“
Digitale Lesekompetenz – Was ist das? Ein Konzept

Der Computer ist textbasiert. Alle 01-Codes, alle Computerprogramme sind Texte und alle digitalen Technologien sind textbasierte Technologien. Der Computer und auch alle anderen digitalen Technologien stehen also ebenso auf der Grundlage des Alphabets wie das Buch. Somit ist es nur schlüssig, dass sich Bibliotheken ebenfalls der Vermittlung digitaler Lesekompetenz widmen, ansonsten können wir alle schneller als uns lieb ist (wie in dem Film „Matrix“) Gefangene der Repräsentation der Matrix, der optisch immersiven Illusion, werden –von der Technik beherrscht, anstatt sie zu beherrschen.
Die Digitale Lesekompetenz hat in der Stadtbibliothek Stuttgart drei Aktionsfelder.
- "Interface" meint die Medienoberflächen und deren Nutzungsqualitäten: Wann benutze ich welches Medium zu welchem Zweck. Damit ist Medienkompetenz gemeint. Diese vermittelt die Stadtbibliothek zum Beispiel in Interneteinführungen oder Rechercheschulungen.
- "Code" meint die technologischen Bedingungen wie die Programmierung und die Auswirkungen der Digitalisierung wie Datenschutz, Proprietarisierung von Wissen, Wissensmonopole. Für diesen Bereich arbeitet die Stuttgarter Stadtbibliothek mit kompetenten Partnern zusammen. Der Chaos Computer Club Stuttgart beispielsweise hält Vorträge über Programmierung, freie Software und Verschlüsselung von E-Mails oder beim Surfen im Internet. Mit der Programmiersprache Scratch lernen schon die Kinder, wie man Objekten Befehle zuordnet und wie ein kleines Spiel programmiert werden kann.
- "Soz" bezieht sich auf die gesellschaftlichen, persönlichen und interaktiven Konsequenzen der digitalen Welt. Was macht die Digitalisierung mit mir? Was macht sie mit der Gesellschaft? In diesem Bereich veranstaltet die Bibliothek beispielsweise Podiumsdiskussionen zum Thema Veränderung der Arbeit in der digitalisierten Welt oder zur Geschichte von virtuellen Realitäten. Der Verein No Spy widmet sich in der Literaturreihe „Digitale Albträume – Literarischer Realitätsabgleich“ literarischen Werken wie „Schöne neue Welt“ oder „1984“ und erarbeitet mit dem Publikum in einem Mix aus Lesung, Workshop und Gespräch, wie sehr die Literatur bestimmte Entwicklungen vorausgesehen hat. Die Kunst ist für die Stadtbibliothek Stuttgart schon immer eine Form gewesen, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. So arbeitet sie eng mit internationalen Netzkünstlern und Hochschulen zusammen, die Studiengänge in den Bereichen Interface Design, Game Design und Game Art anbieten.
Diese drei Aktionsfelder „Interface, Code und Soz“ bilden jeweils untereinander Schnittmengen.
Veranstaltungen oder: „beherrschen anstatt beherrscht zu werden“

In den offenen Treffen von der Wikipedia-Gruppe Stuttgart lernen angehende Wikipedia-Autoren die ersten Schritte bei der Bearbeitung von Artikeln in Begleitung erfahrener Nutzer oder langjährige Wikipedia-Nutzer und Administratoren tauschen sich über Feinheiten von Wikipedia-Inhalten und der Technik aus.

Die Initiative „Code for Germany“ beschäftigt sich mit Entwicklungen im Bereich Transparenz, Open Data und Civic Tech. Aktuell bieten sie Workshops zum Bauen von open source DIY Feinstaub-Sensoren an. Anschließend sollen diese über die Stadt Stuttgart verteilt werden, um ein genaueres Bild der Feinstaubverteilung zu erhalten.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt außerdem auf der digitalen Kultur. In der Galerie b – auf den 16 Großbildschirmen in Eingangsbereich der Stadtbibliothek am Mailänder Platz wird Netz- und Videokunst, aber auch Netzliteratur und Literaturperformances, präsentiert.

Beim „Global Game Jam“ [4] kommen weltweit tausende Games-Begeisterte zusammen. Ziel der Veranstaltung ist es, innerhalb von 48 Stunden in Teams kleine Computer- oder Brettspiele zu einem vorgegebenen Thema zu entwickeln. Bei diesem Game-Hackathon arbeitet die Bibliothek mit dem Stuttgarter Entwicklerbüro Chasing Carrots zusammen.

Im Format „Online Media Campus for Kids“ [5] entdecken Kinder als Astronaut spielerisch die Welt der Medien und der Bibliothek. Dabei werden komplexe Technologien wie Chat-Bots, VR-Brillen, Programmieren von Robotern wie Dash und das Gestalten und Erstellen von Video-Clips anhand einer Rallye durch die Bibliothek vermittelt. Das Konzept und auch die Umsetzung stammen von Studentinnen und Studenten der Hochschule der Medien Stuttgart.
Im Jahr 2018 hat die Stadtbibliothek Stuttgart am Mailänder Platz 128 Veranstaltungen zu Digitaler Lesekompetenz für die Zielgruppe Erwachsene angeboten und acht Ausstellungen im Bereich Digitale Kultur konzipiert. Die Stadtbibliothek Stuttgart ist längst zu einem Knotenpunkt für die Auseinandersetzung mit Digitaler Kultur in der Region geworden.
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Über die Autorin: Meike Jung ist seit 2011 für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadtbibliothek Stuttgart verantwortlich und davor in vielen Bereichen der Stuttgarter Stadtbibliothek tätig gewesen.
Das Konzept "Digitale Lesekompetenz" präsentierte sie bereits auf mehreren Fachtagungen und Konferenzen im In- und Ausland.
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[1] Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machtechniken. S. Fischer, Frankfurt a.M. 2014, S. 9
[2] Inke Arns: Post-Internet Art: Normcore in Zeiten des Hyperkapitalismus, 2014.
http://irights-media.de/webbooks/jahresrueckblick1415/chapter/post-inte…
[3] http://www.stuttgart.de/stadtbibliothek/podcast/
[4] https://globalgamejam.org/
[5] http://omm-for-kids.iuk.hdm-stuttgart.de/
Bildrechte
© Stadtbibliothek Stuttgart:
Bild 6: Die Galerie b verfügt über 16 Großbildschirme im Eingangsbereich der Bibliothek. Hier wird prominent Film- und Netzkunst, GameArt, Netzliteratur und Literaturperformance präsentiert.
Bild 2 und 4: Die Cryptoparty des Chaos Computer Clubs Stuttgart findet zweimal im Jahr in der Stadtbibliothek Stuttgart statt.
Bild 1 und 5: Der Global Game Jam ist ein 48-Stunden-Hackathon. 2019 arbeiteten 16 Teams in der Stadtbibliothek Stuttgart an Spielen zum Thema Heimat.
Bild 3: Online Media Campus for Kids: Roboter bauen und programmieren
© Günther Marsch: Autorinnenportrait Meike Jung