European Commission logo
Ein Konto erstellen
Mehrere Wörter mit Komma trennen

EPALE - Elektronische Plattform für Erwachsenenbildung in Europa

Blog

Blog

Die Komponenten des Lesens bei Deutsch lesenden Erwachsenen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten

Dieser Beitrag erläutert, welche Defizite bei den Komponenten des Lesens bei gering literarisierte Erwachsenen auftreten.

TreeImage.
Redaktion Deutsches Institut für Erwachsenenbildung

Diese kurze Darstellung basiert auf folgendem kürzlich veröffentlichten frei zugänglichen Artikel:

Bar-Kochva, I., Vágvölgyi, R., Dresler, T., Nagengast, B., Schröter, H., Schrader, J., & Nuerk, H. C. (2021). Basic reading and reading-related language skills in adults with deficient reading comprehension who read a transparent orthography. Reading and Writing, S. 1–23. https://link.springer.com/article/10.1007/s11145-021-10147-4

 

Lesezeit ca. 7 Minuten - Lesen, liken, kommentieren!


Einleitung

Groß angelegten Studien zufolge verfügt ein signifikanter Anteil der erwachsenen Bevölkerung weltweit nicht über ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten [1]. Laut der jüngsten LEO-Studie haben 12,1 % der Erwachsenen in Deutschland (6,2 Millionen Menschen) Schwierigkeiten bereits beim Lesen von kurzen Texten. Dabei haben 52,6 % dieser Erwachsenen Deutsch als erste Sprache gelernt [2].

Die Lesekompetenz wird üblicherweise im Rahmen groß angelegter Studien mithilfe von Aufgaben zum Leseverständnis beurteilt. Beim Leseverständnis handelt es sich in der Tat, um das Ziel des Lesens [2], welches jedoch aus einem komplexen Prozess besteht, bei dem grundlegendere Lesefähigkeiten eine Rolle spielen [3], wie die Genauigkeit und Geschwindigkeit bei der Dekodierung und der Worterkennung. Schwierigkeiten bei einer oder mehrerer dieser Fähigkeiten können zumindest teilweise mangelhaftes Leseverständnis erklären. In einer aktuellen Studie wurden die grundlegenden Lesefähigkeiten sowie einige lesebezogene Sprachkompetenzen von Erwachsenen mit geringen Leseverständnis in der deutschen Orthographie untersucht [4]. Hier werden einige der Hauptergebnisse dieser Arbeit vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf den grundlegenden Lesefähigkeiten der Erwachsenen liegt. Konkret geht es um das Maß der Genauigkeit und das Tempo beim Dekodieren, Wort- und Textlesen. Dekodieren ist die Fähigkeit, Grapheme in ihre entsprechenden Klänge zu übertragen. Diese Fähigkeit ist wesentlich, um den orthografischen Code zu entschlüsseln, und wird üblicherweise im Laufe des ersten Schuljahres systematisch vermittelt. Beim Wort- und Textlesen geht es um die Fähigkeit, gedruckte Wörter mit und auch ohne Kontext genau und schnell zu erkennen. Wenngleich das Leseverständnis nicht nur von diesen grundlegenden Lesekompetenzen abhängt [3], spielen diese eine zentrale Rolle dabei, da durch die Beherrschung dieser „technischen“ Aspekte des Lesens weitere kognitive Ressourcen für die komplexe Aufgabe des Textverständnisses verfügbar gemacht werden.

Lesen verschiedener Orthografien

Die erhobenen Daten zu den grundlegenden Fähigkeiten des Lesens bei Erwachsenen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten basieren hauptsächlich auf Studien zu Leser*innen der englischen Orthografie. Aus diesen geht hervor, dass Erwachsene mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten, bei den Grundkompetenzen des Lesens im Durchschnitt Defizite aufweisen (z. B. [5]). Allerdings unterscheiden sich die jeweiligen Orthografien in verschiedenen Aspekten. Ein zentraler Aspekt ist die Transparenz der Beziehung zwischen Schreibweise und Klang einer Orthografie. Orthografien lassen sich nämlich auf einer Transparenzskala zuordnen (Abbildung 1). Je transparenter eine Orthografie ist, desto größer ist ihre Regelmäßigkeit in der Übereinstimmung zwischen Schreibweise und Klangeinheiten. Beim Lesen der deutschen Orthografie ist die Beziehung zwischen Schreibweise und Klang relativ transparent. Beim Englischen handelt es sich jedoch aufgrund seiner unregelmäßigen Beziehung zwischen Schreibweise und Klang, um eine undurchsichtige Orthografie [6]. Auf Deutsch kann beispielsweise das Wort Jacht allein durch Dekodierung korrekt gelesen werden. Im Englischen würde ein Prozess der Abgleichung zwischen Grapheme und Phoneme jedoch nicht zu einer korrekten Erkennung desselben Wortes (Yacht) führen. Folglich stellt der Erwerb von Lesekompetenz im Englischen im Vergleich zum Erwerb einer entsprechenden Kompetenz in transparenteren Orthografien eine größere Herausforderung dar [7]. Die Undurchsichtigkeit der Orthografie in Verbindung mit anderen möglichen Faktoren, die mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten im Erwachsenenalter verbunden sind, wie z. B. viele Jahre des Lesevermeidens, kann ausschlaggebend für geringe Grundkompetenzen beim Lesen sein. Im Gegensatz dazu wird davon ausgegangen, dass eine transparente Orthografie den Erwerb der grundlegenden Lesefähigkeiten und hauptsächlich der Fähigkeiten des Dekodierens und der genauen Worterkennung erleichtert [6; 7; 8]. Daher lassen sich Ergebnisse, die für die englische Sprache ermittelt wurden, nicht uneingeschränkt auf transparentere Orthografien anwenden. Aus diesem Grund war es wichtig, der Frage nachzugehen, ob die Schwierigkeiten bei grundlegenden Lesefähigkeiten auch bei Erwachsenen mit geringem Leseverständnis, die eine relativ transparente Orthografie wie die deutsche Orthografie lesen, auftreten.

eispiele relativer orthographischer Transparenz in unterschiedlichen Sprachen (basierend auf Ziegler et al., 2010)

 

Die Untersuchungsmethode 

Teilnehmer*innen: An der Studie nahmen vierundfünfzig Personen teil, deren Leseverständnis bei sehr kurzen Texten unter dem erwarteten Niveau von Sechstklässlern lag (basierend auf dem Leseverständnistest ELFE 1-6 [9]). Das Durchschnittsalter der Teilnehmer*innen betrug 26,17 Jahre (Standardabweichung von 16,06). Die Teilnehmer*innen wurden in Deutschland geboren und wiesen eine geschätzte allgemeine nonverbale Fähigkeit innerhalb des Normbereichs auf [10]. Nicht einbezogen wurden Personen mit besonderen Beeinträchtigungen (mit diagnostizierten Hör- oder Sehschädigungen oder einem Aufmerksamkeitsdefizit), welche Ihre Schwierigkeiten beim Lesen erklären könnten. Personen mit diagnostizierter Lese- und Rechtschreibstörung wurden mit einbezogen. Rekrutiert wurden die Teilnehmer*innen aus Alphabetisierungskursen für Erwachsene oder aus Berufsschulen.

Es wurden standardisierte Tests in der deutschen Sprache verwendet und die entsprechenden Normen berücksichtigt, was einen Vergleich der Leistung der Teilnehmer*innen mit dem erwarteten Niveau verschiedener Altersgruppen ermöglicht. Die Kompetenzen Dekodieren und Wortlesen wurden anhand des Salzburger Lese- und Rechtschreibtests II (SLT-II [11]) und das Textverständnis anhand des Züricher Lesetests II (ZLT-II [12]) untersucht. Eine vollständige Aufstellung der Tests und der verfügbaren Normen befindet sich im ursprünglichen Artikel [4].

Ergebnisse

Beim Vergleich mit den verfügbaren Normen war die durchschnittliche Leistung der Gruppe mangelhaft. Dekodieren und Wortlesen wurden anhand einer kombinierten Masse der Leseflüssigkeit, welche die Lesegenauigkeit und Lesezeit in Betracht nimmt, zu den Normen verglichen. Der Textlesetest ermöglichte hingegen eine separate Betrachtung der Lesegenauigkeit und Lesezeit.  In den Bereichen flüssiges Wortlesen und Lesezeit für einen Text lagen die durchschnittlichen Ergebnisse in der niedrigstmöglichen Perzentile, d. h. der Perzentile 1 bis 5. Dies bedeutet, dass bis zu 5 % der Allgemeinheit in diesen Bereichen dieses oder ein niedrigeres Kompetenzniveau aufweisen. Auch die Fähigkeit zum flüssigen Dekodieren war mit einem Durchschnittswert auf der 7. bis 10. Perzentile sehr gering ausgeprägt. Allerdings wies ein auffallender Anteil der Proband*innen in diesen Bereichen kein Defizit auf (14,8 % beim Wortlesen, 20,3 % beim Dekodieren und 32,7 % bei Textlesen).

Was die Lesegenauigkeit betrifft, basierten die analysierten Messwerte auf Fehlerquoten, da keine Normen für die Genauigkeit beim Dekodieren und Lesen einzelner Wörter existierten. Die durchschnittliche Fehlerquote betrug 10,31 % beim Dekodieren und 3,86 % beim Wortlesen. Die durchschnittliche Fehlerquote beim Textlesen (für das es Normen gibt) betrug 6,82 % und lag zwischen der 16. und 25. Perzentile. Allerdings lag die Leistung von 25 % der Proband*innen deutlich darunter (auf der 10. Perzentile). Darüber hinaus sollte erwähnt werden, dass trotz geringer absoluter Fehlerquoten beim Lesen das falsche Lesen von 10–11 Wörtern in einem Text mit 156 Wörtern (was aus der Fehlerquote von 6,82 % beim Textlesen hervorgeht) das Leseverständnis dennoch erheblich beeinträchtigen kann.

Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse legen nahe, dass Defizite bei den grundlegenden Lesefähigkeiten durchschnittlich bei Erwachsenen mit einem geringen Leseverständnis auftreten. Zugleich bedeuten signifikante Defizite beim Leseverständnis dieser Bevölkerungsgruppe nicht unbedingt auch Defizite bei den grundlegenderen Lesefähigkeiten. Darüber hinaus deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Lesegenauigkeit einen Teil dieser Erwachsenen Schwierigkeiten bereitet, obwohl sie eine transparente Orthografie lesen.

Folgen

Die Ergebnisse zu den Leser*innen des Deutschen in Kombination mit bisherigen Erkenntnissen zu Leser*innen des Englischen bestätigen, dass in Alphabetisierungskursen für Erwachsene die grundlegenden Lesefähigkeiten angegangen werden sollten – wie es oft tatsächlich auch der Fall ist. Wie man von schwachen Leser*innen einer transparenten Orthografie erwarten würde, erwies es sich bei der großen Mehrheit der Proband*innen als äußerst schwierig, Leseflüssigkeit zu erreichen. Dennoch lassen die aktuellen Ergebnisse gleichzeitig darauf schließen, dass die Genauigkeit beim Lesen, trotz des Lesens einer transparenten Orthografie, nicht außer Acht gelassen werden darf

Anhand der aktuellen Ergebnisse wird auch deutlich, dass bei der Konzeption der Lehre in Alphabetisierungskursen die Heterogenität der Teilnehmer*innen berücksichtigt werden muss. Selbst wenn alle Teilnehmer*innen gravierende Defizite beim Leseverständnis aufweisen, sollte das Unterrichtsprogramm nach Möglichkeit den unterschiedlichsten Bedürfnissen gerecht werden. Während einige Teilnehmer*innen die Grundlagen des Lesens erlernen müssen, geht es bei anderen Teilnehmer*innen möglicherweise darum, andere Kompetenzen im Bereich Leseverständnis zu verbessern wie Strategien im Leseverstehen, Allgemeinwissen und Wortschatzkenntnisse. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer umfassenden Evaluation der Fähigkeiten zu Beginn eines Alphabetisierungskurses und ein individualisiertes Lernprogramm.


Über die Verfasserin:

Irit Bar-Kochva ist seit 2018 Professorin für Alphabetisierung und Sprachliche Grundbildung in dem Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE) – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen.

Chantal Herrmann ist seit 2019 Wissenschaftliche Hilfskraft für den Bereich Sprachliche Grundbildung und Alphabetisierung in dem Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.


Literaturhinweise

[1] OECD (2016). Skills Matter: Further Results from the Survey of Adult Skills, OECD Skills Studies, OECD Publishing. doi: 10.1787/9789264258051-en

[2] Grotlüschen, A., & Buddeberg, K. (2020). LEO 2018. Leben mit geringer Literalität. WBV.

[3] Perfetti, C. A., Landi, N., & Oakhill, J. (2005). The acquisition of reading comprehension skill. In Snowling, M. J., & Hulme, C. (Hrsg.). The science of reading: A handbook, S. 227–247. Blackwell Publishing.

[4] Bar-Kochva, I., Vágvölgyi, R., Dresler, T., Nagengast, B., Schröter, H., Schrader, J., & Nuerk, H. C. (2021). Basic reading and reading-related language skills in adults with deficient reading comprehension who read a transparent orthography. Reading and Writing, S. 1–23.

[5] Mellard, D. F., & Fall, E. (2012). Component model of reading comprehension for adult education participants. Learning Disability Quarterly, Band 35, Nr. 1, S. 10–23. https:// doi. org/ 10. 1177/ 07319 48711 429197

[6] Share, D. L. (2008). On the Anglocentricities of current reading research and practice: the perils of overreliance on an “outlier” orthography. Psychological Bulletin, Band 134, Nr. 4, S. 584. https:// doi. org/ 10. 1037/0033- 2909. 134.4. 584

[7] Seymour, P. H., Aro, M., & Erskine, J. M. (2003). Foundation literacy acquisition in European orthographies. British Journal of Psychology, Band 94, Nr. 2, S. 143–174. https:// doi. org/ 10. 1348/ 00071 26033 21661859

[8] Ziegler, J. C., Bertrand, D., Tóth, D., Csépe, V., Reis, A., Faísca, L., ... & Blomert, L. (2010). Orthographic depth and its impact on universal predictors of reading: A cross-language investigation. Psychological Science, Band 2, Nr. 4, S. 551–559. https:// doi. org/ 10. 1177/ 09567 97610 363406

[9] Lenhard, W., & Schneider, W. (2006). ELFE 1–6: Ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler [ELFE 1–6]. Hogrefe.

[10] Kreuzpointner, L., Lukesch, H., & Horn, W. (2013). LPS-2: Leistungsprüfsystem 2. Hogrefe.

[11] Moll, K., & Landerl, K. (2010). SLRT-II: Lese- und Rechtschreibtest [SLRT-II]. Hogrefe.

[12] Petermann, F., & Daseking, M. (2013). Manual zum Zürcher Lesetest II. Huber.

Login (1)

Want to write a blog post ?

Zögern Sie nicht, es zu tun!
Klicken Sie auf den untenstehenden Link und beginnen Sie mit der Veröffentlichung eines neuen Artikels!

Neueste Diskussionen

TreeImage.
Zsuzsanna Dr Kiss-Szabó

Rollenwandel beim Ausbildungspersonal in der beruflichen Aus- und Weiterbildung im 21. Jahrhundert

Der Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts befindet sich in einem ständigen Wandel. Erfahren Sie mehr über die Veränderungen im Arbeitsumfeld in dem vom BIBB veröffentlichten Artikel "Führung und Kommunikation in der Ausbildung".

Zusätzlich
Profile picture for user npchanta.
Chantal PIERLOT

Fähigkeiten für ein demokratisches Leben aufbauen. Die Rolle der Erwachsenenbildung und -erziehung

Starten Sie die Diskussion, wie die Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts aktivere Bürger hervorbringen können!

Zusätzlich
Profile picture for user npchanta.
Chantal PIERLOT

Online-Diskussion - Kreativität und Kultur für den sozialen Zusammenhalt

Latest News