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Interventionen für Erwachsene mit gering ausgeprägten Lese- und Schreibkompetenzen

Welche Arten von Maßnahmen für Erwachsene mit gering ausgeprägten Lese- und Schreibkompetenzen wurden bisher untersucht und was bringen sie?

Lesen und Schreiben sind für die gesellschaftliche Teilhabe unerlässlich. Die Internationale Studie zur Untersuchung von Alltagsfähigkeiten Erwachsener der OECD (PIAAC ) hat allerdings ergeben, dass etwa jede(r) fünfte Erwachsene in den OECD-Ländern in der Erhebung über die Kompetenzen Erwachsener eine Lese- und Schreibkompetenz von 1 oder weniger erreicht hat, was auf ein niedriges Kompetenzniveau hindeutet (OECD, 2019). Dies wirft die Frage auf, welche Maßnahmen geeignet sind, um Erwachsenen bei ihrer Alphabetisierung zu helfen. In einer kürzlich veröffentlichten Meta-Analyse wurde ein kleiner signifikanter Haupteffekt (g = 0,22) auf die Lese- und Schreibkompetenz der Teilnehmenden von Lese- und Schreibinterventionen festgestellt (Kindl & Lenhard, 2023). Maßnahmen für Erwachsene mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten können jedoch auf zusätzliche Aspekte der Lese- und Schreibkompetenz abzielen (wie z. B. die Lese- und Schreibpraktiken, die Einstellung zum Lesen oder das Selbstvertrauen) und individuell auf den jeweils erforderlichen Bedarf an Unterstützung eingehen. Um den Wissensstand über Alphabetisierungsmaßnahmen für Erwachsene mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Lernzielen zu analysieren, werden derzeit in einer systematischen Literaturauswertung wissenschaftlich untersuchte Maßnahmen für Erwachsene mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen und deren Ergebnisse untersucht (Butscheidt, im Erscheinen). Eingeschlossen sind empirische Studien über Lese- und Schreibprogramme für Erwachsene (im Alter von mindestens 16 Jahren). Es werden sowohl qualitative als auch quantitative Studien berücksichtigt. Zu den Ergebnissen gehören Verbesserungen der Lese- und Schreibfähigkeiten sowie der Lese- und Schreibpraktiken, mehr Erfolge beim Erwerben von Zertifikaten, eine Zunahme der Lebenskompetenzen und der beruflichen Fähigkeiten, Auswirkungen auf Aspekte der familiären Lesekompetenz oder Veränderungen in der Einstellung der Lernenden zum Lesen und in ihrem Selbstbild. Da der Schwerpunkt auf den Lernenden lag, wurden Studien, die die Ergebnisse ausschließlich aus Sicht der Lehrkräfte untersuchten (d. h. Interviews, Berichte usw.), ausgeschlossen. Studien, in denen die Ergebnisse durch Beobachtungen der Forschenden oder durch Selbstberichte der Lernenden gemessen wurden, sind wiederum eingeschlossen. Studien über Alphabetisierungsprogramme für Familien werden berücksichtigt, wenn sie über Auswirkungen auf Erwachsene berichten. In diesem Beitrag werden vorläufige Ergebnisse dieser Auswertung (die auf zehn Studien basieren) vorgestellt, um zum Verständnis der Forschungslandschaft im Bereich der Alphabetisierungsmaßnahmen für Erwachsene beizutragen. 

In den zehn bisher identifizierten Studien wurden zwei Arten von Interventionen vorgeschlagen, die sich in ihren Schwerpunkten unterscheiden: Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeiten durch Unterricht („Directive Training“) und lebensnahe „True-to-Life“-Alphabetisierungsprogramme. Beim Directive-Ansatz lag der Schwerpunkt auf der strukturierten und expliziten Vermittlung der Komponenten des Lesens und Schreibens. Die True-to-Life-Alphabetisierungsprogramme bestanden aus authentischen Alphabetisierungskursen und gingen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der erwachsenen Lernenden ein. Diese Art von Programmen kann auch spezifische Lese- und Schreibfähigkeiten vermitteln, konzentriert sich aber auf authentische Alltagskontexte oder bestimmte Bereiche, in denen Erwachsene Unterstützung benötigen, wie z. B. den Arbeitsmarkt. Wir werden uns einen Überblick über beide Arten von Interventionen in Bezug auf ihren Inhalt, die explizit angesprochenen Ziele und die Ergebnisse verschaffen.

„Directive Training“-Alphabetisierungskurse

Maßnahmen, die zu dieser Kategorie des Schreib- und Lesetrainings gehören, vermitteln und trainieren explizit Lese- und Schreibkompetenzen und Teilfertigkeiten wie Entziffern, Lesegenauigkeit, Lesefluss und Rechtschreibung. Es wurden fünf Ausbildungsprogramme identifiziert, die zu diesem Typus gehören. 

Die erste ist das Corrective Reading (Korrigierendes Lesen). Corrective Reading lehrt Wortstrukturen und geht mit der Zeit von einem phonologischen Fokus zum Lesen auf Wortebene über (Greenberg et al., 2011; Sabatini et al., 2011; Shore et al., 2013). Während die Lernenden das Lesen üben, korrigiert die Lehrkraft sofort ihre Fehler. Sofortiges Feedback und die schrittweise Vermittlung von neuem Material sollen sicherstellen, dass die Lernenden jede Fertigkeit sicher beherrschen, bevor sie zur nächsten übergehen.  

Die zweite ist das Guided Repeated Reading (Geführtes wiederholtes Lesen). Der Ansatz besteht darin, dass die Lernenden kurze Texte oder Passagen zum Training des Redeflusses lesen (Greenberg et al., 2011; Sabatini et al., 2011; Shore et al., 2013). In diesem Programm kann den Teilnehmenden Zeit gegeben werden, Passagen leise für sich selbst zu lesen, bevor sie der Lehrkraft laut vorlesen. Der Schwerpunkt liegt auf der Genauigkeit und einer angemessenen Lesegeschwindigkeit. 

Das dritte Programm ist das RAVE-O-Programm. RAVE-O wurde ursprünglich für Kinder mit Legasthenie entwickelt und dann mit Erwachsenen getestet (Sabatini et al., 2011; Shore et al., 2013). Das Programm geht von der Doppeldefizit-Hypothese aus, die besagt, dass Defizite in der phonologischen Verarbeitung und/oder in der Benennungsgeschwindigkeit den Leseerwerb erheblich beeinträchtigen können (Sabatini et al., 2011; Shore et al., 2013). Die modifizierte Version des RAVE-O-Lehrplans für erwachsene Lernende ist darauf ausgelegt, Personen mit einem dieser Defizite oder einem Doppeldefizit zu helfen (Sabatini et al., 2011; Shore et al., 2013). Das Programm bietet systematischen orthografischen, morphologischen, phonologischen und semantischen Unterricht und spricht mehrere Lesekomponenten an, wobei der Schwerpunkt auf dem Training der Phonetik und des Leseflusses liegt (Sabatini et al., 2011; Scarborough et al., 2013).  

Die Wirksamkeit von „Corrective Reading“, „Guided Repeated Reading“ und dem RAVE-O-Programm wurde in Interventionsstudien nachgewiesen, die Gruppenfortschritte bei Gruppengrößen zwischen 81 und 198 Teilnehmern analysierten (Greenberg et al., 2011; Rodrigo et al., 2014; Sabatini et al., 2011; Shore et al., 2013). Zwei Studien zeigten für diese Ansätze geringe, aber signifikante Zuwächse in der Lesekompetenz (Greenberg et al., 2011; Sabatini et al., 2011). Fortschritte wurden beim Entziffern, bei der Buchstaben- und Worterkennung, beim flüssigen Lesen und beim Verstehen von Texten erzielt. 

Im Gegensatz zu anderen Studien haben Scarborough et al. (2013) die individuellen Fortschritte und nicht die Gruppenfortschritte untersucht. Sie fanden heraus, dass 46 Prozent der 148 Teilnehmenden der verschiedenen Programme (Corrective Reading, Guided Repeated Reading, RAVE-O) signifikante Verbesserungen ihrer Lesefähigkeiten erzielten. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass einzelne Teilnehmende von Alphabetisierungsmaßnahmen profitieren und ihre Fähigkeiten verbessern können. Dennoch zeigten 54 Prozent der Teilnehmenden keine signifikanten Fortschritte, was die Heterogenität der Zielgruppe unterstreicht.

Was die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten anbelangt, so weisen zwei Studien darauf hin, dass Fortschritte durch direkte Unterweisung in den Lesefähigkeiten erzielt werden können (Rodrigo et a., 2014; Shore et al., 2013). Rodrigo et al. (2014) berichteten, dass Teilnehmende von Programmen dieses Typs nach der Schulung häufiger Buchhandlungen oder Bibliotheken aufsuchten. Im Vergleich zu authentischeren Lesetrainings, die Elemente des extensiven Lesens enthalten, war der Effekt jedoch schwächer und hielt nicht so lange an (siehe Kapitel Lebensnahe Alphabetisierungsprogramme („True-To-Life“): Extensives Lesen). In einer anderen Studie wurden signifikante Veränderungen in der Wahrnehmung der eigenen Lesefähigkeiten bei Erwachsenen festgestellt, die an Guided Repeated Reading, Corrective Reading oder RAVE-O teilnahmen (Shore et al., 2013). Die Teilnehmenden des Konzepts des geführten wiederholten Lesens gaben auch an, mehr Textarten und häufiger zu lesen (Zunahme der Lesehäufigkeit bei Gehaltsabrechnungen, Zeitschriften, Arbeitsformularen, eigenen Schularbeiten und Kinderbüchern). Die Teilnehmenden des korrigierenden Lesens berichteten ebenso über eine gewisse Zunahme der Lesehäufigkeit (häufigeres Lesen von Zeitungen und Bibliotheksbüchern). 

Das vierte Programm dieser Art ist Word Study, ein strukturierter Lehrplan für Rechtschreibung. Bei diesem Programm lernen die Lernenden Wörter mit ähnlichen orthografischen Merkmalen und werden ermutigt, die zugrunde liegenden orthografischen Regeln zu erlernen (Shaw & Berg, 2008). Eine Studie mit je fünf Teilnehmenden in der Versuchsgruppe und der Kontrollgruppe ergab erhebliche Fortschritte bei den Lernenden der Versuchsgruppe. Die Teilnehmenden füllten auch eine Selbstwirksamkeitsskala aus, in der sie ihre Lernfortschritte und ihr Vertrauen in ihre Lese- und Schreibfähigkeiten seit der Teilnahme am Rechtschreibkurs bewerteten. Sie bewerteten darüber hinaus auch, wie zufrieden sie mit ihrer Teilnahme waren und ob sie immer für den Unterricht lernten. Die Ergebnisse zeigten, dass die Teilnehmenden den Kurs als hilfreich empfanden und gerne daran teilgenommen hatten. Folgebefragungen mit offenen Fragen bestätigten diese Ergebnisse. Unter anderem wurden folgende Antworten gegeben:         

  • „Ich fühle mich gut. Ich fühle mich viel besser. Ich fühle mich viel besser, und es geht mir wirklich besser. Ich kann lesen und Laute hören.“ (Shaw & Berg, 2008, S. 138)
  • „Jetzt weiß ich, wie ich die Laute hören und aussprechen kann [...]“ (Shaw & Berg, 2008, S. 137)
  • „Es geht mir viel besser. [...] Meine Rechtschreibung hat sich sehr verändert.“ (Shaw & Berg, 2008, S. 137)

Das letzte Programm ist AutoTutor. Interventionen, die sich auf Lesekomponenten konzentrieren, werden sowohl in Präsenz als auch über E-Learning- und Fernlernplattformen angeboten. E-Learning ermöglicht eine flexible Gestaltung der Lernzeiten und verschiedene Optionen für personalisierten Unterricht (Fang et al., 2021; Chen et al., 2021). Ein untersuchtes digitales Lernwerkzeug für das Üben des Leseverständnisses ist AutoTutor, ein intelligentes Tutorsystem (Intelligent Tutoring System, kurz ITS) (Fang et al., 2021; Chen et al., 2021). AutoTutor simuliert menschenähnliche Einzelgespräche in Form eines Dialogs zwischen den Lernenden und einer künstlichen Lehrkraft (Fang et al., 2021; Chen et al., 2021). In einigen Versionen werden sogar Trialoge zwischen der künstlichen Lehrkraft, einer künstlichen dritten Person und den jeweiligen menschlichen Lernenden durchgeführt (Fang et al., 2021; Chen et al., 2021). Die Lektionen enthalten oft Videos mit Erklärungen, Gespräche über Texte, Sätze oder Wörter und Aufgaben für die Lernenden. Solche Aufgaben können etwa in Form eines Wettbewerbs zwischen den menschlichen Lernenden und einer oder einem digitalen Dritten auftreten (Fang et al., 2021).

Die Ergebnisse einer hybriden Intervention, die eine menschliche Lehrkraft im Präsenzunterricht und AutoTutor für das E-Learning im Fernunterricht umfasste, lieferten Hinweise auf die Wirksamkeit des Programms (Fang et al., 2021). Eine Stichprobe von 252 Teilnehmenden wurde in vier Gruppen eingeteilt. Leistungsstarke Leser:innen schlossen die Aufgaben relativ schnell und genau ab, gewissenhafte Leser:innen schlossen die Aufgaben langsam und genau ab, weniger engagierte Leser:innen waren schnell, aber ungenau, und sich mühende Leser:innen waren sowohl langsam als auch ungenau (Fang et al., 2021). Die Gewissenhaften erzielten die größten Zuwächse im Leseverständnis, während die Zuwächse bei den sich mühenden Teilnehmenden am geringsten waren (Fang et al., 2021). Eine der Schwierigkeiten bei AutoTutor besteht darin, die Konzentration und Motivation der Lernenden aufrechtzuerhalten. In der Forschung wird jedoch nach Wegen gesucht, wie man bei der Verwendung von ITS ein Abdriften erkennen und den Fokus neu ausrichten kann (Chen et al., 2021).

Insgesamt mangelt es jedoch noch immer an Forschung zu E-Learning-Methoden für Erwachsene im Alphabetisierungsprozess. Insbesondere werden Studien mit einer Kontrollgruppe benötigt, um zu bewerten, inwieweit sich die Ergebnisse von E-Learning-Maßnahmen von anderen Ansätzen zur Alphabetisierung von Erwachsenen unterscheiden.

(Bild von Mohamed_hassan auf Pixabay)

Lebensnahe Alphabetisierungsprogramme („True-to-Life“)

Mit Maßnahmen dieser Kategorie wird versucht, Erwachsene beim authentischen Lesen- und Schreibenlernen zu unterstützen, wobei der Schwerpunkt auf dem realen Leben liegt. Dazu gehören das Lesen zum Vergnügen, Lebenskompetenzen oder bestimmte Bereiche der Lesekompetenz, die für das reale Leben wichtig sind, z. B. Lesekompetenz im Beruf oder in der Familie. Es wurden drei Programme ermittelt, die in diese Kategorie fallen. 

Die erste ist AlphaPlus. Es handelt sich um ein Alphabetisierungsprogramm, das erwachsene Lernende in verschiedenen Lebensbereichen unterstützen soll und dementsprechend auf verschiedene Komponenten der Lese- und Schreibfähigkeiten und damit zusammenhängende Aufgaben abzielt. AlphaPlus trainiert das Lesen und die Rechtschreibung sowie grundlegende Fähigkeiten der Wahrnehmung, einschließlich auditiver und visueller Fähigkeiten, die als notwendig für die Lese- und Schreibentwicklung angesehen werden (Rüsseler et al., 2012; Rüsseler et al., 2013). Die Lese- und Schreibaufgaben wurden so konzipiert, dass sie auf reale Bedürfnisse eingehen und den Teilnehmenden bei alltäglichen und berufsbezogenen Herausforderungen helfen (Einkaufen, Ausfüllen von Standardformularen, Lesen von Stellenangeboten usw.). Darüber hinaus umfasst das Programm die Nutzung einer Online-Lernplattform und soziale Aktivitäten wie gemeinsames Einkaufen und Kochen oder einen Besuch im Fußballstadion. Ein weiterer Teil des Programms ist die Arbeit an einer individuellen Bewerbungsmappe und die Teilnahme an einem dreiwöchigen Berufspraktikum (Rüsseler et al., 2012; Rüsseler et al., 2013). 

Eine Studie über den Ansatz wurde mit Teilnehmenden durchgeführt, die von der Bundesagentur für Arbeit über den Kurs informiert wurden. Eine kleine Stichprobe von 36 Teilnehmenden in der Versuchsgruppe und 10 Teilnehmenden in der Kontrollgruppe nahm an der Studie teil (Rüsseler et al., 2012; Rüsseler et al., 2013). Die Kontrollgruppe nahm an allgemeinen Alphabetisierungskursen an Volkshochschulen in Deutschland teil. Am Ende des neunmonatigen Programms hatten die Teilnehmenden der Versuchsgruppe ihre Rechtschreib- und vor allem ihre Lesekompetenz verbessert, wobei die durchschnittliche Lesekompetenz vom Niveau der ersten auf das der zweiten Klasse angestiegen war (Rüsseler et al., 2013). Die Erfahrungen der Lernenden mit dem Programm und dem Lernprozess wurden beschrieben. Nach anfänglicher Zurückhaltung, mit anderen Menschen über die Art des Kurses zu sprechen, wurden sie offener für den Austausch ihrer Erfahrungen und wollten andere über die Vorteile der Teilnahme an Alphabetisierungsprogrammen informieren (Rüsseler et al., 2012). Darüber hinaus bewerteten die Teilnehmenden den Kurs auf einer Skala von 1 bis 6 mit 1,7 (allgemeine Zufriedenheit mit dem Kurs), wobei 1 der höchste Wert ist (Rüsseler et al., 2013). Fast ein Drittel von ihnen fand nach Abschluss des Programms eine Beschäftigung, wobei nicht klar ist, um welche Art von Beschäftigung es sich handelte, wie unabhängig sie ihre Arbeitssuche betrieben und ob sie ihre Lebensqualität verbessern konnten. 

Das zweite Programm ist Extensives Lesen (Extensive Reading). Während verschiedene Interventionen für Erwachsene mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen authentische Lese- und Schreibpraktiken durchaus in ihre Programme einbeziehen, legt der Ansatz des Extensiven Lesens besonderen Wert darauf. Ursprünglich in Klassenräumen für Englisch als Zweitsprache (ESL) eingesetzt, wurde es von Forschenden modifiziert, um den Bedürfnissen von Erwachsenen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben gerecht zu werden. Im Gegensatz zu einem direktiven Lesetraining zielt es nicht direkt auf bestimmte grundlegende Lesefähigkeiten ab, sondern ermöglicht den Lernenden, sich mit umfassenden und authentischen Leseerfahrungen zu beschäftigen, in der Hoffnung, die Fähigkeiten dennoch zu verbessern. Extensives Lesen simuliert eine Bibliothek mit Büchern und anderen Lesematerialien, die dem Kenntnisstand der Teilnehmenden entsprechen (Greenberg et al., 2006). Der Schwerpunkt liegt auf dem Lesen zum Vergnügen und dem allgemeinen Verständnis. Die Lernenden lernen verschiedene Buchgattungen kennen und erfahren, wie sie Lesestoff auswählen können, der sie interessiert. Sie haben die Möglichkeit, schweigend zu lesen, ein Buch wegzulegen, wenn es ihnen nicht gefällt, sich während des Lesens Notizen zu machen und das Gelesene den anderen Teilnehmenden vorzustellen (Greenberg et al., 2006). Zum Programm gehört auch, dass die Lehrkraft aus einem Buch vorliest, das sie für die ganze Klasse für geeignet hält, und anschließend eine Diskussion darüber führt. Ähnlich wie in einer echten Bibliothek können die Lernenden Bücher ausleihen, um sie zu Hause zu lesen. 

In einer Studie von Greenberg et al. (2006) stellte sich heraus, dass eine 27-köpfige Gruppe in einem Programm zum Extensiven Lesen auf Gruppenebene einen Zuwachs der Leseflüssigkeit und des Ausdruckswortschatzes zeigten. Wie aus den Antworten der Lernenden hervorgeht, reagierten sie im Allgemeinen positiv auf diesen Ansatz. Die Teilnehmenden berichteten, dass sie mehr und verschiedene Arten von Büchern lasen und das Gelesene besser verstanden. Die Entwicklung dreier einzelner Lernender wurde von den Autoren im Detail beschrieben. Die Lernenden, wenn auch anfangs noch skeptisch, begannen, die Erfahrung zu genießen und ihre Einstellung zum Lesen zu ändern. Ein Teilnehmer begann sogar, Bücher mit nach Hause zu nehmen, um jüngeren Kindern in seiner Nachbarschaft vorzulesen und ihnen so die Möglichkeit zu geben, selbst positive Erfahrungen mit dem Lesen zu machen (Greenberg et al., 2006). Es ist jedoch unklar, inwieweit die erzielten Fortschritte allein auf das Programm zurückzuführen sind, da die Studie keine Kontrollgruppe umfasste. 

Es gibt weitere Studien, die die Wirksamkeit von Extensivem Lesen belegen. Greenberg et al. (2011) verglichen die Ergebnisse von Extensive Reading-Ansätzen mit direkteren, expliziten Ansätzen (spezifisches Lesetraining) und stellten fest, dass alle Interventionen die Lesefähigkeiten (Entzifferung, Buchstaben- und Worterkennung, Lesefluss, Textverständnis) mit geringen Effektstärken erfolgreich verbessern. Eine positive Auswirkung von Extensive Reading auf die Lesepraxis zeigte eine Studie von Rodrigo et al. (2014). Sie untersuchten das Leseverhalten von 181 Erwachsenen mit geringen Lesefähigkeiten, die entweder an einer Extensive-Reading-Intervention oder an einem direkten Leseunterricht teilnahmen. Die Teilnehmenden am Extensive Reading berichteten, mehr zu lesen und ein angefangenes Buch eher zu Ende zu lesen (Rodrigo et al., 2014). Obwohl die Teilnehmenden beider Programmtypen angaben, nach der Teilnahme häufiger Buchhandlungen oder Bibliotheken zu besuchen, war der Effekt bei den Teilnehmenden des Extensive-Reading-Programms stärker und länger anhaltend (82 % aus der Gruppe des Extensive Reading-Programms besuchten sechs Monate nach der Teilnahme immer noch häufiger Bibliotheken, verglichen mit 63 % ohne Extensive-Reading-Programm) (Rodrigo et al., 2014).        

Zuletzt verschaffen wir uns einen Überblick über Programme zur Alphabetisierung von Familien. Einige Alphabetisierungsprogramme sind so konzipiert, dass sie ganze Familien unterstützen, indem sie Eltern und Kindern helfen, ihre Lese- und Schreibfähigkeiten gemeinsam zu verbessern und mehr Lese- und Schreibpraktiken in ihren Alltag zu integrieren (Kim & Byington, 2016; Paratore, 2005; Swick, 2009). Untersuchungen haben gezeigt, dass eine gering ausgeprägte Lese- und Schreibkompetenz im Erwachsenenalter häufig damit zusammenhängt, dass die betreffenden Personen als Kinder in Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status aufgewachsen sind, in denen Unterstützung beim Lernen nur schwer und unzureichend verfügbar war (Nickel, 2002). Ebenso wirken sich frühkindliche Lese- und Schreibpraktiken und elterliche Lese- und Schreibkompetenzen positiv auf die Lese- und Schreibfähigkeiten der Kinder aus (z. B. Kim & Byington, 2016). Daher helfen Projekte wie das Family Storyteller Program for Preschoolers (Programm „Familienlesezeit für Vorschulkinder“) dabei, Eltern und ihre Kinder im Vorschulalter in familiäre Lesepraktiken und Sprach- oder Leseaktivitäten einzubinden (Kim & Byington, 2016). Bei diesem Programm lernen Eltern und Kinder, gemeinsam Kinderbücher zu lesen, wobei die Lehrkraft Lesetechniken vorgibt und die Eltern das gemeinsame Lesen üben (Kim & Byington, 2016). Die Familien können Bücher mit nach Hause nehmen, um mit ihren Kindern zusätzliche Sprach- und Leseübungen auszuführen.

Eine Studie stellte fest, dass sowohl eine sechswöchige (n = 199) als auch eine vierwöchige (n = 175) Version dieses Programms einen starken positiven Effekt auf verschiedene Aspekte der familiären Lesekompetenz hatte, wie z. B. die Häufigkeit des Lesens, die Anzahl der Kinderbücher zu Hause, das Erzählen von Geschichten, gemeinsame Bibliothekenbesuche und die Initiierung von Leseaktivitäten durch Eltern oder Kinder (Kim & Byington, 2016). Das Programm wurde in wirtschaftlich benachteiligten Gebieten im Südwesten der Vereinigten Staaten durchgeführt.    

(Bild von geralt auf Pixabay)

Diskussion

Dieser Beitrag beschreibt die vorläufigen Ergebnisse einer laufenden systematischen Auswertung wissenschaftlicher Literatur. Die Auswertung zielt darauf ab, die Forschungslandschaft zu Alphabetisierungsmaßnahmen für Erwachsene im Überblick darzustellen (einschließlich der Ziele, die in den Maßnahmen ausdrücklich angesprochen werden, und ihrer Ergebnisse). Die vorläufigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die verschiedenen Arten von Alphabetisierungsprogrammen in ihren Schwerpunkten unterscheiden – während einige die Lese- und Schreibfähigkeiten durch expliziten Unterricht und Training verbessern möchten, adressieren andere diese Fähigkeiten zusätzlich zu den Lese- und Schreibpraktiken oder konzentrieren sich ausschließlich auf letztere. 

Die vorläufigen Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass sich die meisten der bisher analysierten Maßnahmen auf das Training spezifischer Lese- und Schreibfähigkeiten konzentrieren. Dies legen die fünf verschiedenen Programme dieser Art nahe, die bisher untersucht wurden. Zwar ist davon auszugehen, dass die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten ein wichtiger erster Schritt zur Verbesserung der Lese- und Schreibpraktiken ist, die Lese- und Schreibpraktiken scheinen in der Forschung über entsprechende Maßnahmen jedoch weniger häufig behandelt zu werden. Auch Studien über Maßnahmen zur Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten enthalten nur selten Angaben zu den Lese- und Schreibpraktiken. 

Was den zweiten Schwerpunkt (also die Ergebnisse der Maßnahmen) betrifft, so legt die aktuelle Auswertung nahe, dass verschiedene Arten von Interventionen, die sich in ihren Schwerpunkten unterscheiden, zu einer Verbesserung der Lese- und Rechtschreibkomponente und zu verbesserten Lese- und Schreibpraktiken führen können. Interessanterweise können Lese- und Schreibfähigkeiten sowohl durch Ansätze, die sich explizit auf diese Fähigkeiten konzentrieren, als auch durch Programme, die sich auf eine authentische Lesepraxis konzentrieren, wie etwa das Extensive Lesen (Greenberg et al., 2011), verbessert werden. Allerdings waren die Fortschritte in der Lese- und Schreibpraxis bei Teilnehmenden mit authentischen Ansätzen stärker und länger anhaltend (Rodrigo et al., 2014). Die Effektgrößen für die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten waren auf Gruppenebene gering bis moderat (Greenberg et al., 2011; Rüsseler et al., 2013; Sabatini et al., 2011). Betrachtet man die individuellen Fortschritte, so konnten einzelne Teilnehmende signifikante Fortschritte erzielen (46 %), wobei sich ein ähnlich großer Anteil nicht verbesserte (54 %) (Scarborough et al., 2013). 

Eine weitere vorläufige Schlussfolgerung in Bezug auf die Forschung zu den Interventionsergebnissen ist das Fehlen von Langzeituntersuchungen. Die meisten der bisher behandelten Studien haben nur zwei Testzeitpunkte mit einem Prä-Post-Test-Design oder drei mit einem zusätzlichen Follow-up. Um Lernkurven im Zeitverlauf zu analysieren, sind Längsschnittstudien mit kontinuierlicher Messung des Lernfortschritts erforderlich. Es ist auch anzumerken, dass nur selten über die Auswirkungen der Interventionen auf den Beschäftigungsstatus oder die sozioökonomische Situation berichtet wurde (Rüsseler et al., 2013).

Da der vorliegende Beitrag auf einer in Arbeit befindlichen Auswertung beruht, sollten die hierin vorgeschlagenen Schlussfolgerungen aus dieser Überprüfung entsprechend vorsichtig interpretiert werden. Die bisher gesammelten Daten belegen jedoch, dass Erwachsene im Alphabetisierungsprozess ihre Lese- und Schreibfähigkeiten und -praktiken verbessern können, insbesondere im Bereich des Lesens.  


Literaturverzeichnis

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Fang, Y., Lippert, A., Cai, Z., Chen, S., Frijters, J. C., Greenberg, D. & Graesser, A. C. (2021). Patterns of Adults with Low Literacy Skills Interacting with an Intelligent Tutoring System. International Journal of Artificial Intelligence in Education, 32, 297-322.

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Greenberg, D., Wise, J, Morris, R., Fredrick, L., Nanda, A. O. & Pae, H.-K. (2011). A randomized control study of instructional approaches for struggling adult readers. Journal of Research on Educational Effectivness, 4(2), 101-117.        

Kim, Y., & Byington, T. A. (2016). Community-Based Family Literacy Program: Comparing Different Durations and Family Characteristics. Child Development Research, 1, 1-10.           

Kindl, J. & Lenhard, W. (2023). A meta-analysis on the effectiveness of functional literacy interventions for adults. Educational Research Review, 41, 100569.

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Paratore, J. R. (2005). Approaches to Family Literacy: Exploring the Possibilities. The Reading Teacher, 59(4), 394-396.   

Rodrigo, V., Greenberg, D. & Segal, D. (2014). Changes in reading habits by low literate adults through extensive reading. Reading in a Foreign Language, 26(1), 73-91.      

Rüsseler, J., Menkhaus, K., Aulbert-Siepelmeyer, A., Gerth, I. & Boltzmann, M. (2012). „Alpha Plus“: Ein innovatives Trainingsprogramm für die Lese- und Schreibausbildung von erwachsenen funktionalen Analphabeten. Creative Education, 3(3), 357-361.

Rüsseler, J., Boltzmann, M., Menkhaus, K. & Aulbert-Siepelmeyer, A. (2013). Evaluation eines neuen Trainingsprogramms zur Verbesserung der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten funktionaler Analphabeten. Empirische Sonderpädagogik, 5(3), 237-249.

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Scarborough, H. S., Sabatini, J. P., Shore, J. Cutting, L. E., Pugh, K. & Katz, L. (2013). Meaningful reading gains by adult literacy learners. Reading and Writing, 26, 593-613.

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Shaw, D. M. & Berg, M. A. (2008). Effects of a Word Study Intervention on Spelling Accuracy Among Low-Literate Adults. Adult Basic Education and Literacy Journal, 2(3), 131-139.

Swick, K. J. (2009). Promoting School and Life Success Through Early Childhood Family Literacy. Early Childhood Education Journal, 36(5), 403–406.


Der Autor:

Butscheidt, Moritz

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen (DIE), Bonn, Deutschland

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Kommentar

The systematic review on interventions for adults with low literacy skills highlights promising strategies for improving literacy through both directive and authentic approaches. It's encouraging to see that programs like Corrective Reading and Extensive Reading can significantly enhance literacy skills and practices. The inclusion of real-life literacy programs and family literacy initiatives is particularly noteworthy, as they address the diverse needs of adult learners in practical contexts. This review underscores the importance of tailored interventions and suggests a positive impact on learners' confidence and engagement. Great work in advancing our understanding of effective adult literacy interventions!

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