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6 Kompetenzen, die dabei helfen, gesellschaftliche Krisen zu überwinden

Um Demokratie zu sichern, muss sie Krisen überstehen können. Oskar Negt formulierte schon um 1980 Schlüsselkompetenzen dafür. Wir brauchen sie noch.

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CONEDU Austria

Lesedauer: ca. 4 Minuten

Um Demokratie zu sichern, muss sie Krisen überstehen können. Der Soziologe und Erwachsenenbildner Oskar Negt formulierte bereits in den 1980er Jahren Schlüsselkompetenzen, die dabei helfen sollen. Wir brauchen sie noch heute.

Schild, darauf steht: We demand democracy

„Was müssen Menschen wissen, damit sie die heutige Krisensituation begreifen und ihre Lebensbedingungen in solidarischer Kooperation mit anderen verbessern können?“, formulierte der Soziologe, Sozialphilosoph und Erwachsenenbildner Oskar Negt im Jahr 1997. Obwohl diese Frage mehr als 25 Jahre zurückliegt, könnte es in Anbetracht heutiger globaler, sozialer sowie ökonomischer Krisen nicht zeitgemäßer ausgedrückt werden. 

In den 1980er Jahren konzipierte Oskar Negt „gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen“, die dabei unterstützen, gesellschaftliche Krisen in demokratischen Gesellschaften zu überwinden und ein zufriedenes Leben zu erreichen. Sie haben über mehrere Jahre Änderungen bzw. Erweiterungen erfahren.

Negts sechs Schlüsselkompetenzen – Identitätskompetenz, ökologische Kompetenz, technologische Kompetenz, historische Kompetenz, Gerechtigkeitskompetenz und Ökonomische Kompetenz – sind heute in Zeiten multipler Krisen nach wie vor von Bedeutung.

Mit Identitätsbrüchen umgehen lernen: Identitätskompetenz

Das Leben in einer Welt, die von einem ständigen Wandel der Werte, Normen und technischen Entwicklungen geprägt ist, führt nach Negt zu bedrohten und zerbrochenen Identitäten. Die fortschreitende Digitalisierung, der Klimawandel oder die wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie sind Beispiele für solche Veränderungen. 

Diese Krisen können die persönliche Identität bedrohen. Ein Beispiel: Eine Person hat viele Jahre für ein renommiertes Automobilunternehmen gearbeitet. Nun gerät sie zunehmend in Bedrängnis, weil sie immer häufiger die Frage beantworten muss, wieso sie für einen Arbeitgeber tätig ist, der den Klimawandel vorantreibt. Das Selbstbild, in einem renommierten Unternehmen sinnvolle Arbeit zu leisten, bröckelt.

Eine Kompetenz, die diesem Identitätsbruch entgegenwirken kann, ist nach Negt die Identitätskompetenz. Damit ist die Fähigkeit gemeint, sich reflektiert mit den Veränderungen der Gesellschaft und der eigenen Position darin auseinandersetzen zu können.

Medien und Technologie kritisch nutzen: technische Kompetenz (heute: kritische Medienkompetenz)

Obwohl Oskar Negt die Schlüsselkompetenzen bereits in den 1980er Jahren formuliert hat, ist die Notwendigkeit einer technologischen Kompetenz im Kontext des digitalen Wandels nach wie vor aktuell. Neben der Anwendungskompetenz geht es auch darum, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technik zu thematisieren. Gerade in den letzten Jahren hat Kritische Informations- und Medienkompetenz an Dringlichkeit gewonnen – mit KI reflektiert umgehen oder Deepfakes erkennen können, sind nur zwei aktuelle Beispiele.

Ungerechtigkeit erkennen und aufdecken: Gerechtigkeitskompetenz

Dass Menschen erkennen, was und wie sich Recht und Unrecht, Gleichheit und Ungleichheit ausdrücken, verstand Negt als Gerechtigkeitskompetenz. Menschen sollen ihre eigenen Rechte kennen und diese auch einfordern können. Es geht dabei um eine Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit für Ungerechtigkeit. 

Auch wenn Demokratien nicht per se weniger soziale Ungleichheit aufweisen als Autokratien, kann soziale Ungleichheit Demokratien gefährden (siehe z.B. „Die Auswirkung sozialer Ungleichheit auf die Demokratie“ oder „Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie“ (PDF)). Umso wichtiger ist die Gerechtigkeitskompetenz auch heute, um gesellschaftlichen Krisen zu begegnen, die sich u.a. auf Ungleichheit oder Ungerechtigkeit gründen. Die Care-Krise oder die globale Ungerechtigkeit im Kontext des Klimawandels sind beispielsweise zwei gesellschaftliche Herausforderungen, bei denen Gerechtigkeitskompetenz relevant wird.

Sorgsam mit unserer Umwelt umgehen: ökologische Kompetenz

Ökologische Kompetenz soll nach Negt dazu befähigen, sorgsam mit Menschen, Natur und Dingen umzugehen. Dieses Verständnis von ökologischer Kompetenz, das über den Umweltschutz hinausgeht, liegt im Kern auch im Selbstverständnis der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, die die internationale Staatengemeinschaft bis zum Jahr 2030 erreichen soll.  

Wirtschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen erkennen können: ökonomische Kompetenz 

Eine weitere Schlüsselkompetenz ist nach Negt die ökonomische Kompetenz, die darin besteht, den gesellschaftlichen Zusammenhang von Ökonomie und die Folgen, die sich daraus ergeben, mitzudenken. 

Die Veränderungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt, die sich in Zukunft etwa durch Künstliche Intelligenz oder nachhaltiges Wirtschaften ergeben werden, nachvollziehen zu können, ist ein aktuelles Beispiel für ökonomische Kompetenz. 

Aus der Vergangenheit lernen und die Zukunft entwerfen: historische Kompetenz

Die in die Vergangenheit gerichtete Fähigkeit zur Erinnerung und die in die Zukunft gerichtete Fähigkeit zur Utopie fasste Negt als historische Kompetenz zusammen. Das Wissen um die Geschichte von Gesellschaften, politische Veränderungen und persönliche Lebenserfahrungen sei wichtig, um aus der Vergangenheit zu lernen. Dieses Erinnern, so Oskar Negt, helfe, die Gegenwart zu verstehen und politische Herausforderungen zu bewältigen. Es ermögliche auch, bestehende Konzepte und Ideen kritisch zu hinterfragen und neue Visionen und Utopien für die Zukunft zu entwickeln.

Wie eine klimasensible Welt aussehen kann, welche Möglichkeiten Künstliche Intelligenz zukünftig bieten wird und wie ein Europa der Zukunft überhaupt aussehen kann, sind brennende Fragen unserer Zeit. Um Antworten darauf zu finden, rückt das Entwerfen von Dystopien und Utopien wieder stärker in den Fokus. So erörterte etwa die Politikwissenschaftlerin María do Mar Castro Varela im Jahr 2020 in einem Gastvortrag über die Bedeutung von Utopie und Kritik in der politischen Bildung, dass die Beschäftigung mit Utopien notwendig sei, um die Gegenwart zu problematisieren und sich an Alternativen anzunähern. Auch die Frage nach dem Umgang mit dem Klimawandel bringt Utopien im Rahmen von Lernen und Bildung für Transformationsprozesse wieder in die Diskussion.

Demokratie lernen!

In einem seiner Hauptwerke „Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform“ formulierte Oskar Negt, dass niemand als politisches Wesen geboren werde. Demokratie, so Negt, sei die einzige Staatsform, die Jung und Alt immer wieder neu lernen müssen. Und die sechs Schlüsselkompetenzen können dafür einen Bezugspunkt schaffen. 

Demokratiebildung in diesem Sinne zu fördern, gewinnt angesichts gegenwärtiger antidemokratischer Entwicklungen –  auch in Europa – wieder stärker an Bedeutung. Von der Kompetenz, mit Identitätsbrüchen umzugehen, bis hin zur Fähigkeit, Utopien für unsere Zukunft zu entwickeln – wenn wir diese Schlüsselkompetenzen stärker in den Fokus von Bildung rücken, könnte das dazu beitragen, unsere Demokratien zu erhalten.

Oskar Negt war deutscher Soziologe, Sozialphilosoph und politischer Erwachsenenbildner. Im Februar 2024 ist Oskar Negt im Alter von 89 Jahren verstorben.


Weitere Informationen (inkl. Links)


Text/Author of original article in German: Antonia Unterholzer und Lucia Paar/CONEDU 
Redaktion/Editing of original article in German: Lucia Paar/CONEDU 

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