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Sozialwirtschaft: Für ein Europa mit mehr Gerechtigkeit und Inklusion?

Gespräch mit Timothée Duverger, leidenschaftlicher Verfechter der Werte der Sozial- und Solidarökonomie

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Camille POIRAUD

[Übersetzung : EPALE Frankreich]

Timothée Duverger ist leidenschaftlicher Verfechter der Werte der Sozial- und Solidarökonomie, die man mit den folgenden Worten zusammenfassen könnte: Solidarität, Zusammenarbeit und demokratische Teilhabe.

Er übt verschiedene Tätigkeiten aus, sowohl an der Universität (Sciences Po Bordeaux, Centre Emile Durkheim) als auch in Vereinen (Observatoire des Territoires Zero Chômeur de Longue Durée). Er schreibt regelmäßig für die Presse (Alternatives Economiques) und hat mehrere Bücher veröffentlicht.

Seine Überlegungen gehen über die Grenzen Frankreichs hinaus: Er engagiert sich insbesondere beim GSEF (Global Social Economy Forum), dessen nächstes Treffen im Oktober 2025 in Bordeaux (Frankreich) stattfinden wird.

Das Team von EPALE Frankreich traf ihn auf dem letzten französischen Forum zu Sozial- und Solidarökonomie, das im Januar/Februar 2024 in Niort stattfand. Es ging um die Rolle, die Sozialwirtschaft beim Aufbau des Europas von morgen spielen kann.

EPALE: In Frankreich und bei den Vereinten Nationen kennt man es als „économie sociale et solidaire“ (ESS), in Europa kurz als Sozialwirtschaft. Was versteht man unter dem Begriff Sozialwirtschaft?

Die Europäische Union definiert Sozialwirtschaft sowohl normativ als auch statutarisch. Es werden zunächst drei Grundsätze festgehalten:

  • Vorrang von Menschen und sozialen und/oder ökologischen Zielen vor Profit.
  • Wiederanlage des Großteils der Gewinne und Überschüsse in Aktivitäten im Interesse der Mitglieder oder Nutzer (kollektives Interesse) oder der Gesellschaft im weiteren Sinne (allgemeines Interesse),
  • Demokratische und/oder partizipative Führung.

Dies umfasst privatrechtliche Körperschaften, darunter Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Vereine, Stiftungen, Sozialunternehmen und alle anderen Rechtsformen, die diesen ähneln. 

Diese Definition, die ihrer französischen Version im Gesetz von 2014 ähnelt, ist das Ergebnis eines langen Prozesses der Institutionalisierung auf europäischer Ebene, der 1989 unter der Delors-Kommission begann. Nachdem die Sozialwirtschaft mit mehreren Begriffen wie Dritter Sektor oder Soziales Unternehmertum konkurriert hatte, war es tatsächlich der von den Ländern mit romanischen Sprachen unterstützte Begriff Sozialwirtschaft, der sich als Gegengewicht zum Binnenmarkt durch einen Pluralismus der Wirtschaftsmodelle durchsetzte. 

Die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, aber es wird geschätzt, dass 13,6 Millionen Arbeitsplätze und 82,8 Millionen Freiwillige der Sozialwirtschaft zuzuordnen sind. Die Verteilung ist jedoch sehr uneinheitlich. Sozialwirtschaft stellt in Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg oder den Niederlanden zwischen 9 und 10 % der Arbeitsplätze, in den neuen Mitgliedstaaten wie Zypern, Kroatien, Litauen, Malta, Rumänien, der Slowakei und Slowenien jedoch weniger als 2 %. Es geht also um Konvergenz.

 

Könnten Sie einige bekannte Initiativen nennen, die in Europa durchgeführt werden?

Es gibt viele, aber wenn ich eines auswählen müsste, wäre es das Experiment der Territoires zéro chômeurs de longue durée (TZCLD, Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit), das derzeit in Frankreich durchgeführt wird, um das in der Präambel der Verfassung von 1946 verankerte Recht auf Beschäftigung zu konkretisieren.

Das Experiment besteht darin, die Logik der Beschäftigung umzukehren. Das bedeutet, dass Menschen ohne Arbeit zur Definition des Arbeitsinhalts beitragen, indem sie ihre Wünsche und ihr Know-how mit den unbefriedigten sozialen Bedürfnissen des Gebiets abgleichen. Die so geschaffenen Arbeitsplätze werden von beschäftigungsorientierten Unternehmen (EBE) getragen, die der Sozialwirtschaft (Vereine, Genossenschaften) angehören, während die Projektleitung vom lokalen Beschäftigungsausschuss (CLE) übernommen wird, dessen Vorsitzender eine lokale Gebietskörperschaft ist. Die Tätigkeiten tragen hauptsächlich zum ökologischen Wandel und zur sozialen Kohäsion bei. Das 2016 in Frankreich gestartete Experiment umfasste zunächst zehn Regionen, wurde 2020 verlängert und bis heute auf rund 60 Regionen ausgedehnt.

Das Experimente wird gegenwärtig in ganz Europa verbreitet. Wallonien hat angekündigt, es in 17 Regionen einsetzen zu wollen, während die Stadtverwaltung von Rom plant, es in den Stadtteilen Tor Bella Monaca und Corviale zu implementieren. Entsprechende Programme gibt es inzwischen auch in Marienthal in Österreich, Groningen in den Niederlanden und im Bundesland Berlin. Der EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte Nicolas Schmit hat eine europäische Unterstützung für diese Experimente angekündigt. Mehrere Think Tanks, wie die European Foundation for Progressive Studies (EFPS) oder die Jean-Jaurès-Stiftung, stützen sich inzwischen auf diese Experimente, um für eine europaweite Beschäftigungsgarantie einzutreten, die dem Europäischen Grünen Deal eine soziale Komponente verleihen würde.

© Territoires zéro chômeur de longue durée

Wie steht es um die öffentliche Politik der EU zur Förderung der Sozialwirtschaft?

Politische Maßnahmen im Bereich der Sozialwirtschaft gab es zwar bereits seit 1989, der eigentliche Wendepunkt war jedoch die Initiative für soziales Unternehmertum der Europäischen Union im Jahr 2011. Heute haben sie ein deutlich größeres Ausmaß. Die Europäische Kommission hat 2021 ihren Aktionsplan für die Sozialwirtschaft vorgelegt, in dem sie betont:„ Die Sozialwirtschaft hat das Potenzial, die Wirtschaft nach der Pandemie durch inklusive und nachhaltige Wirtschaftsmodelle neu zu gestalten, die zu einem gerechteren ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel führen.“

Der ebenfalls von Nicolas Schmit vorbereitete Plan sieht unter anderem die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen mit Steueranreizen, staatlichen Beihilfen und öffentlicher Auftragsvergabe vor. Das Programm umfasst Bürgschaften, die den Zugang zu Krediten ermöglichen, sowie Eigenkapital- und Kapitalinvestitionen. Die dafür bereitgestellten Mittel sind jedoch unzureichend, da der Plan weder eine Erhöhung des dafür vorgesehenen Finanzvolumens ankündigt, noch einen entsprechenden Finanzrahmen vorsieht. 

Es wurden jedoch bedeutende Fortschritte erzielt. Der Rat der Europäischen Union hat im Jahr 2023 eine Empfehlung verabschiedet. Vorrang wird dabei der Beschäftigungspolitik und der Politik der sozialen Eingliederung eingeräumt. Es werden Maßnahmen zur Förderung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, der Eingliederung, der Ausbildung und von sozialen Innovation vorgeschlagen. Die Empfehlung fordert die Mitgliedstaaten außerdem auf, Strategien für die Sozialwirtschaft zu entwickeln oder zu verlängern, die den Zugang zu Finanzmitteln sowie zu öffentlichen und privaten Märkten, staatliche Beihilfen, Steuern, Maßnahmen zur Messung der sozialen Auswirkungen sowie Sichtbarkeit und Anerkennung betreffen. Das diese Strategien in Ländern unterstützt werden, die solche Programmen traditionell skeptisch betrachten, wie Deutschland oder Polen, ist ein guter Indikator für die Verankerung dieser Politik in Europa.

Wie können Bürger über die Werte der Sozialwirtschaft informiert und geschult werden - insbesondere besonders vulnerable Personen? 

Im Bereich Berufsausbildung ermutigt die Empfehlung die Mitgliedstaaten, Ausbildung und Entwicklung von Kompetenzen, die für die Sozialwirtschaft von Nutzen sind, in zwei Richtungen zu entwickeln: zum einen durch Nutzung der Sozialwirtschaft im Dienste der Eingliederung von Menschen und zum anderen durch Einbeziehung von Themen der Sozialwirtschaft in die Ausbildung.

Im ersten Fall geht es z. B. darum, den Bedarf an neuen Kompetenzen von aufgrund des digitalen und ökologischen Wandels vorwegzunehmen, um Umschulung und Fortbildung während des gesamten Berufslebens, vor allem von Frauen und benachteiligten Gruppen, und um die Schaffung von Programmen für junge Menschen, insbesondere NEETs („not in employment, study or training“), um ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Im zweiten Fall geht es darum, die Sozialwirtschaft auf allen Bildungsebenen zu integrieren, insbesondere in die Kurse für Unternehmertum und Management durch die Förderung von Studenteninitiativen (Studentengenossenschaften, Coaching- und Mentorenprogramme), aber auch durch die Schaffung von Kompetenzzentren für die Ausbildung in Sozialwirtschaft auf nationaler und transnationaler Ebene.

In diesem Zusammenhang sind Erasmus+-Programme, die Austauschprogramme zur Berufspraxis fördern, besonders willkommen. Sie ermöglichen den Aufbau von Kompetenzen, aber auch die Verbreitung von Experimenten und Erfahrungen. Diese Programme werden derzeit leider nicht ausreichend genutzt, eine stärkere Nutzung wäre für die Akteure der Sozialwirtschaft von Vorteil, auch durch Mobilisierung der von ATD Quart-Monde umgesetzten Methode der Verbindung von Wissen und Praxis, mit der die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass das Wissen aus der Lebenserfahrung von Menschen, die Armut kennen, in einen Dialog mit wissenschaftlichem und im Beruf erworbenem Wissen treten kann.

Weiterführende Artikel:

Timothée Duverger, „Soziales Europa: den Versprechungen Taten folgen lassen! “, Economic Alternatives, 23. Februar 2024. Verfügbar auf: https://www.alternatives-economiques.fr/timothee-duverger/europe-sociale-passons-promesses-aux-actes/00109702

Timothée Duverger, „Eine andere Wirtschaft, für ein anderes Europa? “, 16. Februar 2022. Verfügbar auf: 

https://www.alternatives-economiques.fr/timothee-duverger/une-economie-une-europe/00102146

Timothée Duverger, Sozial- und Solidarwirtschaft, La découverte, 2023.

Timothée Duverger und Achille Warnant, Regionale Beschäftigungsgarantie für ein solidarisches Europa, Fondation Jean-Jaurès, 13. November 2023. Verfügbar auf: https://www.jean-jaures.org/publication/vers-une-garantie-demploi-territorialisee-pour-une-europe-solidaire/

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