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EPALE - Elektronische Plattform für Erwachsenenbildung in Europa

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Erwachsenenbildung ist politisch: ganz praktisch

Ein Plädoyer, das anhand von Beispielen zeigt, wie Bildung demokratische Werte und Menschenrechte fördern kann. Diskutieren Sie mit!

Vor kurzem habe ich hier auf EPALE ein Plädoyer für eine sich politisch verstehende Erwachsenenbildung gehalten, und nicht nur ich habe dieses Thema im Lichte der zur Europawahl wieder mehr geführten Debatte über „Bildung für Demokratie“ aufgegriffen, sondern auch Gabriele Müller mit gleich zwei interessanten Artikeln (Demokratiebildung als Querschnittsaufgabe in der Weiterbildung  & Lernen für Demokratie im Alltag). Ich hatte versprochen, mein Plädoyer mit Beispielen zu unterstützen. Ich möchte aber auch zeigen, dass dies nicht nur für die Erwachsenenbildung gilt, sondern für alle Bildungsbereiche.

Noch einmal meine These: 

Erwachsenenbildung kann gar nicht NICHT politisch sein/wirken, es geht lediglich um die Frage, ob wir uns diese Tatsache vor Augen führen und im Sinne von Demokratie und Menschenrechten nutzen oder ob wir anderen Wirkmechanismen den Platz überlassen.  

Ich fange an mit einem Beispiel, das fast der Anlass für meine Überlegungen ist (und gar nichts mit meinen eigenen beruflichen Erfahrungen zu tun hat): mein Mann arbeitet an einer kleinen Universität hier in der Schweiz. Er unterrichtet Mathematik. Ja, wirklich. Mathematik. Klingt ganz unverdächtig unpolitisch. Einer seiner Standardkurse ist „Mathematik der Ungleichheit“. Hier wird mit mathematischen Methoden erarbeitet, welche Arten von Ungleichheit es gibt, es werden mathematisch basierte Vergleiche zwischen Ländern und Kontinenten erarbeitet, dabei lernen die Studierenden die typischen mathematischen Kennziffern für die Messung von Ungleichheit, z.B. den sog. GINI-Index, kennen. Dies tut er ohne die Absicht, die Studierenden zu einer bestimmten politischen Meinung zu bewegen, sondern als Angebot, sich eine eigene Meinung zu bilden, aber mit einem profunden Wissen über die Grundlagen von politischen Aussagen. Auch in der Methodik geht es also um demokratische Ziele: Austausch von Meinungen, kritisches Denken, wissensbasierte Argumentation und Entscheidung. 

Wir halten also fest: Die Entscheidung, Bildung als politisch zu verstehen, hat auf diversen Ebenen Auswirkungen: bei der Zusammenstellung des Programms, den Inhalten und den Methoden. Selbst Standortfragen können so gesehen politische Wirkung haben, erst recht Personalentscheidungen. Damit wird deutlich, dass die Entscheidung, Erwachsenenbildung als politisch zu verstehen und im Sinne von Demokratie und Menschenrechten zu nutzen, eine Wirkung auf die gesamte Einrichtung hat: dies ist der WIA (whole institution approach), den wir z.B. aus der Diskussion um ökologisch nachhaltige Bildung kennen. (1) Ein kleiner Exkurs zum Thema Personalpolitik und politische Wirkung: die Bildungsaktivistin Gloria Boateng aus Hamburg konstatiert im Jahresbericht der Hamburger Volkshochschule 2023: „Bis heute sind die Strukturen so, dass sie einen Teil der Gesellschaft benachteiligen. Dabei geht es nicht nur darum, wer an den Kursen teilnimmt, sondern auch darum, wer die Kurse gibt. Ist auf allen Seiten die Vielfalt der Gesellschaft repräsentiert? Werden Themen gewählt, die eine vielfältige Gesellschaft ansprechen? Wer darf und kann welche Perspektive weitergeben?“ (2)

Weiter zum Thema Beispiele. Ich zähle hier kurz 6 verschiedene Beispiele aus unterschiedlichen Themenbereichen auf:

Deutsch als Fremdsprache und Sprachenlernen allgemein 

In vielen Bundesländern gibt es ein staatlich gefördertes Programm zur sprachlichen Integration von migrantischen Frauen mit Kindern. „Mama lernt Deutsch“ ist häufig als Titel zu finden. Vergleichbare Kurse gibt es auch in Wien, in vielen Schweizer Gemeinden und anderswo. Oft sind diese Kurse in den Schulen oder Kitas, die die Mütter jeden Tag frequentieren. Gelernt wird die Sprache, aber auch Alltagskompetenzen und vor allem, welche Rolle und Rechte Eltern in den Einrichtungen für Kinder haben und wie sie sich „einmischen“ können. Insofern haben diese Kurse eine politische Komponente, weil sie den Frauen ermöglichen, ihre Stimme zu erheben und in einem wichtigen gesellschaftlichen Raum mitzuwirken und an Ort und Stelle Politik mitzugestalten. Es gibt aber auch viele andere Beispiele, eines davon aus meiner eigenen Erfahrung: die Wiener Volkshochschule leitete ein EU-Projekt mit dem Namen „Adult Education for Europe/AEfEU“, das für Menschen mit Migrationsgeschichte die EU mit ihren Rechten, Pflichten Werten und Problemen zum Gegenstand des Sprachenlernens machte, mit Texten und Übungen auf den diversen Levels des Europäischen Sprachensiegels. Die Verknüpfung beider Kompetenzbereiche, Sprache und politische Bildung, entspricht im Übrigen auch dem methodischen Ansatz in der Sprachendidaktik, Sprache über einen thematischen Zugang zu lernen, wie z.B. Kunst, Gesundheit oder eben Politik. Dieser Ansatz (Content and Language integrated Learning, CLIL, oder im Deutschen oft Fach- und Sprach-integriertes Lernen) bildet den Rahmen für die Einbindung diverser Themen in das Sprachenlernen.  

Grundbildung

Die Zeitung „APOLL“, seit einiger Zeit vom VHS-Lernportal herausgegeben, ist nach eigener Aussage „….eine leicht lesbare Zeitung. Sie berichtet über aktuelle Themen aus Politik, Sport und Gesellschaft. Sie können die Zeitung nutzen, um sich zu informieren und Ihr Lesen zu verbessern. Viele Artikel haben einen QR-Code  (man spricht das: Ku-Err-Kood).“ (3). Hier wird deutlich, dass es um beides geht: Lesen lernen (oder verbessern), aber auch Informationen über Politik erhalten, damit Personen mit Lese- und Schreibdefiziten informiert am politischen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. 

Natur und Umwelt

Mein absolutes Highlight bei der Recherche war der folgende Kurs der Hamburger Volkshochschule: „Die Faszination des Vogelzugs und was das mit Politik zu tun hat“. (4) Wohlgemerkt: diesen Kurs habe ich nicht besucht (ich wünschte, ich könnte!). Aber der Titel macht eigentlich deutlich genug, in welche Richtung es gehen könnte.

Finanzen und Haushaltsführung

Es gibt eine Reihe von Kursen, Vorträgen oder Ausstellungen z.B. von den Verbraucherzentralen, in denen es um Haushaltsführung und Umgang mit Geld geht. Aber gleichzeitig werden kapitalistisch orientierte Konsumgewohnheiten und Fragen von Preisgestaltung und Einkommensgerechtigkeit, aber auch nachhaltiges Konsumieren thematisiert. Ein Beispiel aus NRW siehe unten. (5)

Geschichte

Ganz sicher dicht dran an diesem Ansatz ist natürlich der Bereich Geschichte. Aber auch hier liegt in der Themenauswahl, der Zusammenstellung der Inhalte und der Methoden ein Möglichkeitsraum: unterrichte ich den Kurs „Kolonialgeschichte Deutschlands“ als rein historisch angelegten Kurs, oder zeige die Aktualität von kolonialer Geschichte im heutigen Stadtbild, politischen Verhalten o.ä. auf. Diese Wahl ist wichtig. Sie hat unterschiedliche Wirkungen. 

IT und digitale Kompetenzen

Meine Kollegin Dörte Stahl, wie ich EPALE Community Multiplikatorin, macht deutlich, dass im Grunde alle Smartphone / Tablet / Internet -Grundlagenkurse für Senior:innen (und Angebote wie Smartphonecafes) in Richtung „digitale Teilhabe ermöglichen“ gestaltet sind. Und mit Teilhabe ist natürlich gesellschaftliche Teilhabe gemeint, und das …ist durchaus politisch. Wie soll denn eine Wirtschaft in einer Demokratie funktionieren, wenn Menschen keine Bankgeschäfte erledigen können, weil sie kein Smartphone bedienen können? Wie soll man als Staatsbürger:in in einer Demokratie agieren können, wenn staatliche Dienstleistungen nicht zugänglich sind, weil man sie nur digital erreichen kann? Danke für dieses wichtige Beispiel. 

Kurz angerissen nur einige weitere Beispiele: Musik (Das Lied Bella Ciao und seine politische Bedeutung), Stadterkundungen, Museen: Hafen und Arbeitsbedingungen hier und woanders, Kunst (Frauen in der Kunst: Rolle der Frau). 

Wenn Sie als Kursleiter:in, Trainer:in oder Planende von Angeboten jetzt fragen: darf man das? Ist das nicht Überrumpelung der Teilnehmenden? Die kommen doch, weil sie eine Sprache lernen wollen/Lesen und Schreiben lernen wollen/einen Kochkurs machen wollen? Und wenn Sie die Frage bejahen, wie stellen Sie sich dieser Aufgabe?

Zuerst einmal: Transparenz ist wichtig, also bei der Ausschreibung der Kursinhalte. Wichtig ist aber auch die Darstellung Ihrer Organisation, z.B. in Ihrem Leitbild oder Motto. Teilnehmende haben dann die Möglichkeit, durch Teilnahme diesen Zugang zu würdigen oder es nicht zu tun. Hier freue ich mich, ein sehr gelungenes Beispiel institutioneller Darstellung wiedergeben zu können, dass der EPALE-Botschafter Tino Boubaris mit mir geteilt hat: im Leitbild des VNB e.V (Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen) wird klar herausgestellt, welchen gesellschaftlichen und politischen Werten sich diese Einrichtung verpflichtet fühlt: „Selbstbestimmung, Emanzipation, Gewaltfreiheit, Solidarität und Vielfalt.“(6) 

Dies ist allerdings nicht die einzige Einrichtung, die so vorgeht. Gut so. 

Wichtig ist es aber auch, in Fortbildungen für Mitarbeitende und freiberuflich Tätige diese Frage immer wieder zur Diskussion zu stellen und in Bezug zu den Grundthemen der Erwachsenenbildung zu stellen: Erwachsenenbildung ist historisch Teil der Aufklärungsbewegung und bezieht ihren Auftrag auch von dort: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit." (Kant). Welche Fortbildungen sind da vielleicht hilfreich: Mediation, Kommunikationstraining, Methoden zur Diskussionsorganisation inkl. kreativer Methoden und andere. 

Am Ende ein kleiner Ausflug in andere Bildungsbereiche. „An den beruflichen Schulen Deutschlands gilt das fächerübergreifende Prinzip der politischen Bildung: auch das Berufliche ist politisch. Die Auseinandersetzung mit der politischen, ethischen und sozialen Dimension des beruflichen Handelns ist für die Herausbildung einer beruflichen und persönlichen Ethik und Identität unerlässlich“. (7)

Und auch in der schulischen Bildung wird die fächerübergreifende Bedeutung der politischen Bildung betont: „Dabei geht es nicht um die sachfremde Politisierung anderer Fächer, sondern um die Thematisierung und Erschließung der politischen Bezüge, ohne deren Erarbeitung das Bild des fachlichen Gegenstands unterkomplex oder offenkundig unzutreffend ist.“ (8) 

Ich freue mich über Ihre Meinung und/oder Ihre eigenen Beispiele. Im Sinne einer lebendigen und demokratischen Diskussionskultur: schreiben Sie hier in den Kommentaren, reden Sie mit! 

  1. index (dvv-international.de), S. 22ff 
  2. VHS Jahresbericht 2021 (vhs-hamburg.de), S. 4
  3. Schreiben - APOLL-Zeitung (vhs-lernportal.de) 
  4. Die Faszination des Vogelzugs und was das mit Politik zu tun hat | Hamburger Volkshochschule (vhs-hamburg.de)
  5. „Einfach machen! Ideen für nachhaltigen Konsum“ | Ausstellung | Verbraucherzentrale NRW
  6. VNB Leitbild
  7. Politische Bildung als fächerübergreifendes Prinzip | inklusiv politisch bilden | bpb.de , (Vortrag von Prof. Zumstrassen auf der Fachtagung von bpb und KMK)
  8.  Markus Gloe und Tanja Oefterding in: Politische Bildung als fächerübergreifendes Prinzip | inklusiv politisch bilden | bpb.de

Alle Bilder sind von mir mit Hilfe von KI, genau mit OpenArtAI (www. openart.ai) generiert worden, und zwar mit Prompts, die jeweils mit „Create a symbolic picture of people learning …..“ starteten. 

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