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Ein Handwerksberuf als Einstieg zur Wiedereingliederung

Handwerksprojekte im Justizvollzug bieten Inhaftierten eine Chance auf berufliche Qualifizierung und erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

Rund 14.000 Menschen sind derzeit in den 36 Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen inhaftiert. Davon sind etwa 500 in der JVA Geldern untergebracht, die auf die berufliche Qualifizierung von männlichen erwachsenen Straftätern spezialisiert ist. Rund 1.100 Haftplätze für den geschlossenen Vollzug von erwachsenen Männern und Frauen und 37 Plätze im offenen Vollzug für erwachsene Frauen sind in der JVA Köln eingerichtet. Die JVA Heinsberg dient als Vollzugsanstalt für ausschließlich männliche, jugendliche Straftäter im Alter von 14 bis 24 Jahren. Sie ist mit 566 Haftplätzen die größte Jugendstrafanstalt in NRW. Bei der JVA Bochum-Langendreer - Berufsförderungsstätte - handelt es sich um die zentrale Bildungseinrichtung für erwachsene Strafgefangene im offenen Vollzug des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Anstalt verfügt über eine Belegungsfähigkeit von 204 Haftplätzen für männliche Strafgefangene.

 Flur mit Hafträumen in der JVA Geldern

Ausbildungswerkstatt für Maler und Lackierer in der JVA Bochum-Langendreer

 

Vier Justizvollzugsanstalten, die im allgemeinen Sprachgebrauch schlicht "Gefängnis" genannt werden. Erst bei genauerem Hinsehen unterscheiden sich die Zuständigkeiten deutlich voneinander - und doch gibt es viele Parallelen, vor allem mit Blick auf die beruflichen Qualifizierungsangebote für inhaftierte Menschen. 

Ehrenamtliches Engagement des Handwerks

Wer mit Handwerksbetrieben zu tun hat, der weiß, dass gerade die Menschen, die Handwerksbetriebe aufbauen und über Jahre, bisweilen über Generationen hinweg, erfolgreich führen, ein großes Engagement darin beweisen, wenn es darum geht, Menschen zu unterstützen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Mit Blick auf dieses ehrenamtliche Engagement und auf die Chancen, die sich daraus sowohl für Betriebe als auch für inhaftierte Menschen ergeben können, hat der Westdeutsche Handwerkskammertag (WHKT) als Dachorganisation der sieben nordrhein-westfälischen Handwerkskammern einige Projekte initiiert, die sich mit der Frage befassen, wie aus der Wirtschaft heraus Menschen unterstützt werden können, die nach einer Inhaftierung den Weg zurück in die Gesellschaft und ein Leben in sozialer Verantwortung anstreben.

Als durchaus wirksamer und erfolgversprechender Weg hat sich vielfach gezeigt: wer nach einer Inhaftierung eine qualifizierte Beschäftigung aufnimmt, dem bieten sich beste Chancen, die Wiedereingliederung erfolgreich zu meistern. 

Erkenntnisse durch Erasmus+

Dass diese Erkenntnis in vielen europäischen Ländern die Grundlage für vielfältige Ansätze zur Unterstützung der Wiedereingliederung in den jeweiligen Justizsystemen bildet, haben Vertreter des Westdeutschen Handwerkskammertages im Rahmen ihrer Erasmus+ Projekte STEPS, NEXT STEPS und PERSPEKTIVE bereits erfahren. Ein Vergleich der beruflichen Qualifizierungen in Justizvollzugsanstalten in Österreich, Rumänien, Italien, Portugal, Griechenland, in der Türkei oder in den Niederlanden zeigt: je mehr Unterstützungsangebote Inhaftierte in Anspruch nehmen können, desto größer sind die Aussichten auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung. 

Besuch im "Estabelecimento Prisional de Lisboa", der Haftanstalt von Lissabon

Zur Erreichung dieses Ziels gibt es in den Vollzugsanstalten ein vielfältiges Behandlungs- und Betreuungsangebot. Hierzu zählen je nach Land beispielsweise Kurse zum Erwerb sprachlicher Fähigkeiten, Anti-Gewalt-Trainings, soziales Training, Drogen- und Schuldnerberatung sowie psychologische und pädagogische Unterstützung. Die persönliche Entwicklung der Teilnehmenden wird üblicherweise fortlaufend beobachtet und ausgewertet. Insbesondere in deutschen Vollzugsanstalten ist über den Erwerb schulischer Bildungsabschlüsse hinaus häufig der Abschluss einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme möglich, sei es als modular aufgebaute Grundqualifizierung, beispielsweise im Dachdecker- oder Tischlerberuf, bis hin zu dualen Ausbildungen als Maler und Lackierer, Maurer, Friseur oder Hochbaufacharbeiter.

Ungeachtet der vielfältigen Angebote stellt sich überall jedoch dasselbe Problem: Menschen, die aufgrund einer Straftat zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, haben nach Verbüßung der Haft weiterhin mit Vorurteilen zu kämpfen. Doch wie kann diese Herausforderung gemeistert werden, wenn die Zuständigkeit des Justizvollzuges sprichwörtlich an der Pforte endet und nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung stehen, um hier Abhilfe zu schaffen? Da die Besonderheiten und Vorschriften, die den Justizvollzug prägen, für Außenstehende regelmäßig nur schwer zu durchdringen sind, ist es zur Klärung dieser Frage umso wichtiger, die wenigen Möglichkeiten zu nutzen, einen Blick hinter die (regelmäßig) hohen Mauern zu werfen.

Vor diesem Hintergrund haben Vertreterinnen und Vertreter nordrhein-westfälischer Handwerkskammern und des WHKT in Begleitung des Ministeriums der Justiz NRW zuletzt bei einem Besuch der Justizvollzugsanstalt Köln einen ganz unmittelbaren Eindruck davon gewinnen können, welche Rolle die berufliche Bildung im Justizvollzug für die Gefangenen spielt.

Einblicke in den Justizvollzug

Wer eine JVA besichtigen möchte, braucht nicht nur eine vorherige Anmeldung und eine namentliche Registrierung beim Einlass, sondern auch einen stichhaltigen Grund. Denn aus Sicherheitsgründen und zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Inhaftierten sind Anstaltsbesichtigungen grundsätzlich nur in begründeten Ausnahmefällen bei berechtigtem Interesse möglich. Ein solches Interesse bringt die Besuchsgruppe, die aus den Vizepräsidenten der Arbeitnehmerseite sowie weiteren hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mehrerer nordrhein-westfälischer Handwerkskammern besteht, an diesem kalten Februartagtag in Köln ganz sicher mit, wie Alexander Hengst, Vizepräsident der Arbeitnehmerseite des WHKT, beschreibt: 

 

"Wer eine Straftat begeht, muss die Konsequenzen dafür tragen, da gibt es keine Diskussion. Ich glaube an unser Justizsystem und daran, dass niemand verurteilt wird, der dies nicht auch selbst zu verantworten hat. Ich glaube aber auch daran, dass verurteilte Straftäter Menschen sind, die eine zweite Chance verdient haben. Wer seine zweite Chance bereits während der Haft ergreift und sich beruflich weiterentwickelt, dem sollte eine Perspektive am Arbeitsmarkt geboten werden." 

 

Der "Klingelpütz" in Köln

Alexander Hengst betritt gemeinsam mit dem Vizepräsidenten der Handwerkskammer Aachen, Ausbildungsberaterinnen und -beratern der Handwerkskammern Aachen und Köln, dem zuständigen Referatsleiter des Justizministeriums und dem Projektleiter des WHKT die JVA Köln. Nach der obligatorischen Registrierung an der Pforte tritt die Besuchsgruppe zunächst ins Freie und blickt auf einige Anstaltsgebäude, die vor mehr als einem halben Jahrhundert mit Waschbetonplatten verkleidet wurden und aus heutiger Sicht ein wenig aus der Zeit zu fallen scheinen.

Ralf Peters, stellvertretender Anstaltsleiter, begrüßt die Besucherinnen und Besucher mit den wichtigsten Informationen: "Die JVA Köln wurde 1969 in Betrieb genommen und bietet derzeit insgesamt 1.137 Haftplätze. Darunter sind 276 Haftplätze in offenen und geschlossenen Vollzug für erwachsene weibliche Gefangene. Wie Sie sehen können, ist unsere Anstalt etwas in die Jahre gekommen, ein Neubau ist jedoch bereits in Planung."

Bei der anschließenden Gesprächsrunde beantworten Frau Linnartz als Abteilungsleiterin für den Frauenvollzug, Frau Wünsche als Sportbeamtin, Herr Moser als Koordinator für die berufliche Bildung der Inhaftierten und Frau Schulze, Mitarbeiterin im Übergangsmanagement, fachkundig die vielfältigen Fragen der Gäste. 

Alexander Hengst, Vizepräsident des Westdeutschen Handwerkskammertages (l.) und Ulrich Karp, Referatsleiter im Ministerium der Justiz NRW in der JVA Köln

Besichtigung der Ausbildungseinrichtung für Friseure in der JVA Köln

Frauen im Strafvollzug

Der Rundgang durch die Anstalt führt die Gruppe zunächst zum sogenannten Spiegel, dem zentralen Punkt der Anstalt, von dem aus entgegengesetzt lange Gänge scheinbar bis ins Unendliche laufen und die in die Hafthäuser führen, in denen sich die einzelnen Hafträume befinden. Dass in Nordrhein-Westfalen nur in wenigen Justizvollzugsanstalten Frauen inhaftiert sind, hängt wesentlich damit zusammen, dass ihr Anteil lediglich 6,5 Prozent der Gefangenen ausmacht. 

Und wie verbringen die weiblichen Inhaftierten nun ihren Tag? "Wichtige Elemente im Tagesablauf sind Sport und Bewegung", berichtet die Sportkoordinatorin Iliana Wünsche. Sie ist die Chefin über den gut ausgestatteten Kraftraum, über die Außensportanlagen und die Sporthalle, die sowohl den männlichen als auch weiblichen Gefangenen zur Verfügung steht. "Vor allem unsere Turniere in verschiedenen Sportarten bieten den Gefangenen die Möglichkeit, ihre sozialen Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Frustrationstoleranz und Kritikfähigkeit zu trainieren", erklärt Frau Wünsche. Ob es auch gemischtgeschlechtliche Turniere gibt, möchte einer der Besucher wissen. "Unsere interdisziplinären Sportangebote sind immer stark gefragt und gut gebucht", antwortet die Sportbeamtin lächelnd.

Sport und Arbeit

Neben dem Sport sind es vor allem die Arbeits- und Bildungsangebote, die während der Inhaftierung nicht selten Gamechanger im Leben der Gefangenen sind. Frau Linnartz führt die Gruppe durch die Wäscherei, durch die Schneiderei und durch den Friseursalon, der bei den weiblichen Gefangenen als Ausbildungsstätte besonders gefragt ist. " Unsere Inhaftierten können hier den Friseurberuf von Grund auf erlernen und mit der Gesellenprüfung abschließen. Dabei arbeiten wir eng mit der Handwerkskammer und mit der Friseur-Innung Köln zusammen. Natürlich fehlt die Erfahrung mit zahlender Kundschaft, aber das gleichen unsere Inhaftierten zumindest zum Teil mit Bediensteten aus, die ihre Haarpracht den Künsten der angehenden Fachkräfte anvertrauen", berichtet Frau Linnartz. "Eine Herzensangelegenheit für unsere weiblichen Gefangenen im offenen Vollzug, die hier ihre Friseurinnenausbildung machen, ist allerdings ein ganz spezielles Projekt, in dessen Rahmen sie bereits seit 10 Jahren einmal im Monat am Hauptbahnhof obdachlosen Menschen kostenlos die Haare schneiden."

Unterstützung für Betriebe

"Viele unserer Gefangenen nehmen die Angebote des Übergangsmanagements in Anspruch", erläutert Übergangsmanagerin Frau Schulze. "Dabei haben nur solche Gefangene die Möglichkeit der individuellen Betreuung, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dazu zählt unter anderem: wer sozialtherapeutische Angebote des Vollzugs wahrnimmt, also beispielsweise Suchtberatung, Schuldnerberatung, Anti-Drogen-Trainings oder Anti-Aggression-Trainings, und nicht zu psychischen Auffälligkeiten neigt, dem steht auch bis zu sechs Monate nach der Entlassung eine Ansprechperson des Übergangsmanagements zur Seite. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen die Haftentlassenen nicht nur bei Behördengängen, sondern auch bei der Suche nach einem geeigneten Betrieb und sind auch für den Chef oder die Chefin erreichbar, wenn es mal Probleme geben sollte."

Nach vier Stunden in der JVA Köln verabschiedet Herr Peters die Besuchsgruppe an der Pforte. Alexander Hengst fasst seine Eindrücke zusammen: "Der heutige Besuch hat uns gezeigt, dass der Justizvollzug große Anstrengungen unternimmt, um den inhaftierten Menschen eine Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen. Auch wir als Handwerkskammern können unseren Beitrag zu dieser wichtigen Aufgabe leisten. Nicht nur, indem wir in enger Zusammenarbeit mit den Justizvollzugsanstalten gewährleisten, dass die berufliche Qualifizierung während der Haft den Ansprüchen unserer Betriebe entspricht. Sondern auch, indem wir draußen erzählen, welche großartige Arbeit die Justizbediensteten täglich hinter den Mauern leisten."

Themenbezogene Projekte

Die Ziele, Erkenntnisse, Erfahrungen und Ergebnisse der Erasmus+ Projekte des Westdeutschen Handwerkskammertages unterstützen inzwischen auch die NRW-Landesinitiative "Handwerk im Hafthaus", einer Kooperation zwischen dem WHKT und dem Ministerium der Justiz. Mehr zu diesem und den Erasmus+ Vorhaben unter

www.whkt.de/steps

www.whkt.de/nextsteps

www.perspektive-project.eu

www.handwerk-im-hafthaus.de

Vertreter des NEXT STEPS-Projektkonsortiums auf dem Sportplatz der JVA Heinsberg

Metallwerkstatt in der JVA Heinsberg

Bildnachweise: WHKT / PD


Ansprechpersonen für diesen Pressetext

Westdeutscher Handwerkskammertag 

Herr Peter Dohmen
T 0211/3007-707 / peter.dohmen@whkt.de        

 
Bildnachweis: WHKT / RG 
Peter Dohmen ist Projektreferent beim Westdeutschen Handwerkskammertag in Düsseldorf. Er befasst sich seit 2016 mit dem Thema Wiedereingliederung ehemaliger Inhaftierter in den Arbeitsmarkt.
 

 

Ministerium der Justiz NRW

Herr Ulrich Karp
ulrich.karp@jm.nrw.de

  

                      

                                                                  

                 

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Kommentar

Ein sehr spannender Beitrag! In meiner Arbeit im Bereich der Erwachsenenbildung sehe ich immer wieder, wie entscheidend berufliche Qualifizierung für eine erfolgreiche Wiedereingliederung sein kann. Besonders das Handwerk bietet hier tolle Möglichkeiten, weil es praxisnah ist und echte Zukunftsperspektiven schafft. Es wäre schön, wenn solche Programme in der Schweiz noch stärker unterstützt und mit Weiterbildungseinrichtungen sowie Unternehmen vernetzt würden. Danke für diesen wichtigen Einblick!

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