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Das Geschichtenlabor auf Martinique: ein Mittel zur kulturellen und sozialen Integration

Ein Gespräch mit Kathy-Liana BRAVO, Koordinatorin im Labo des Histoires auf Martinique

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David LOPEZ
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Das Geschichtenlabor Le Labo des histoires ist ein auf nationaler Ebene tätiger gemeinnütziger Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, junge Menschen zum Schreiben zu ermutigen und das Schreiben als Mittel zur kulturellen und sozialen Integration zu nutzen. Der Verein bietet jedes Jahr in ganz Frankreich und in den französischen Überseegebieten mehr als 2500 Workshops zum kreativen Schreiben für 6- bis 25-Jährige an. Den Verein gibt es seit 2011. Eine vierköpfige nationale Koordinationsstelle betreut 12 regionale Außenstellen, die mit den lokalen Behörden zusammenarbeiten, Fachkräfte einstellen und ein Netzwerk von Freiwilligen und Ehrenamtlichen organisieren. Die durchgeführten Aktivitäten erreichen jährlich mehr als 25.000 Personen und richten sich sowohl an kulturferne Zielgruppen als auch an junge Menschen, die sich für das Schreiben begeistern.

https://labodeshistoires.com/

Ich habe mit Kathy-Liana BRAVO, der Koordinatorin des Labo des Histoires auf Martinique, gesprochen. Kathy-Liana ist in ihrer Region mit viel Engagement in dem Verein tätig. Wir haben über das Labo des Histoires, aber auch über die Realitäten in der Karibik gesprochen.

David LOPEZ: Wie wurde die Außenstelle des Vereins auf Martinique aufgebaut?

Kathy-Liana BRAVO: Die Außenstelle auf Martinique wurde 2014 auf Wunsch der Gebietskörperschaft Martinique, gegründet und hat ihren Sitz in der Bibliothek Schœlcher, wo auch die Aktivitäten stattfinden.

Die Wahl der Bibliothek (der ältesten auf der Insel) hatte Symbolcharakter. Die Bibliothek, die sich in Fort-de-France befindet, wurde den ehemaligen Sklaven auf Martinique von Victor Schœlcher geschenkt und sollte als Werkzeug für Demokratie und Bildung dienen. Der erklärte Gegner der Sklaverei und ehemalige Abgeordnete von Martinique war 1848 Initiator des französischen Dekrets zur Abschaffung der Sklaverei in Frankreich und seinen Kolonien. Er setzte damals auch Victor Cochina, Journalist und ehemaliger Sekretär von Alexandre Dumas, als ersten Bibliothekar durch. Es ist ein echtes Symbol. 

Die ersten Partner waren Schulen. Wir haben uns an die SuS und Lehrkräfte der Schule gewandt. Nach und nach erweiterte sich die Zielgruppe durch verschiedene Begegnungen und neue Bedürfnisse.

David LOPEZ: Kannst du uns die Schreibwerkstätten für die Zielgruppe junge Erwachsene (18-25 Jahre) vorstellen?

Kathy-Liana BRAVO: Unsere Zielgruppe sind junge Menschen bis 25 Jahre. Während die Maßnahmen im schulischen Bereich oftmals bestehende Programme ergänzen, geht es bei jungen Erwachsene um mehr. Es geht darum, ihnen eine andere Erfahrung mit dem geschriebenen Wort zu bieten. 

Wir sind sowohl in der Kulturvermittlung als auch in der Einführung/Initiation in eine künstlerische Praxis tätig. Für junge Erwachsene, die die Vorstellung verinnerlicht haben, dass diese Aktivitäten nicht an sie gerichtet sind oder dass sie nicht probieren oder testen dürfen, macht das Konzept eines Versuchslabors Sinn. Wir bieten die Plattform an, um etwas zu wagen. Die Workshops basieren auf Teamarbeit mit einem gemeinsamen Ziel und sorgen oft für besonderen Zusammenhalt, indem sie Empathie zwischen den Teilnehmern  schaffen. Rechtschreibung und Grammatik stehen bei unseren Workshops nicht im Mittelpunkt. Kreativität steht an erster Stelle, ebenso wie der persönliche Ausdruck. Die Workshops sind also in erster Linie ein Raum, in dem man sich ausdrücken kann, und in zweiter Linie ein Mittel, um eine künstlerische Praxis durch das geschriebene Wort zu entdecken. 

Meiner Meinung nach stehen junge Erwachsene heutzutage vor großen Herausforderungen, nicht nur im Zusammenhang mit neuen Strategien zur beruflichen Eingliederung, sondern auch aufgrund der ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich in unserem Teil der Welt stellen. Jugendliche hinterfragen den (neo)kolonialen Diskurs und demontieren ihn, um andere Sichtweisen, andere Geschichten und andere Realitäten entstehen zu lassen...

An unseren Workshops kommen Jugendliche, die gerne schreiben, und solche, die schmerzhafte Erinnerungen an die Schule haben, zusammen. Vor dem Profi sind sie sich ähnlich, weil die überwältigende Mehrheit von ihnen die Praxis des kreativen Schreibens in unseren Workshops entdeckt. Sie setzen sich mit denselben Zweifeln hinsichtlich ihrer Legitimität, ihre Meinung zu äußern, auseinander.

David LOPEZ: Wie schulen Sie die Personen, die Aktivitäten für junge Erwachsene anleiten?

Kathy-Liana BRAVO: Wir haben zwei Formen dafür.  Die erste richtet sich an junge Menschen, die gerne Workshops zum kreativen Schreiben leiten möchten. Sie können sich bei uns um eine Ausbildung bewerben. Dies kann im Rahmen eines Berufsbildungsprogramms geschehen. Elsa, meine Kollegin in der Außenstelle in Paris, betreut diesen Aspekt für alle Regionen, in denen Labo vertreten ist. Diese Form wird eher zentral verwaltet.

Der zweite Weg steht in der Tradition der aktiven Methoden. Er wird lokal verwaltet. Die Fachkräfte, die ich für die Leitung von Workshops heranziehe, bringen berufliche Kompetenz mit und erarbeiten wenn nötig mit mir zusammen den Ablauf der Workshops, um Moderationskompetenz zu entwickeln. Es geht darum, herauszufinden, wie sich Kompetenzen am besten durch Üben vermitteln lassen. Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Philosophie der „aktiven Bildung/informellen Bildung“ in den Workshops beibehalten wird. Die Workshops sind praktische, lebendige Werkstätten, die es gerade jungen Erwachsenen ermöglichen, die Freude an der Schreibpraxis unter Gleichaltrigen wiederzuentdecken und gleichzeitig eine künstlerische Praxis (wieder) zu entdecken, ihre Gedanken zu Gehör zu bringen. Das ist wirklich der Kern unseres Handelns: das Schreiben und den Zugang zur Kultur zu demokratisieren.

Diese Altersgruppe (16-25 Jahre), vor allem in den Überseegebieten, sieht sich zahlreichen Hindernisse gegenüber, die den Zugang zu kulturellen Praktiken betreffen (schlecht organisierte öffentliche Verkehrsmittel, hohe lokale Konzentration des kulturellen Angebots, Kosten der Aufführungen, Barrierefreiheit, ...). Der Vorschlag des Labo des histoires, die Workshops im ganzen Land in der Nähe zu organisieren und die Aktivität nicht zu zentralisieren, ist daher wirklich relevant.

David LOPEZ: Als ich Martinique besuchte, spürte ich überall ein komplexes Verhältnis zur Geschichte und zur Verbindung mit dem „Hexagone“, dem französischen Festland. Gibt es eine Besonderheit der Region Grande Caraïbe? In Bezug auf Sprache? Kultur? Interkulturellen Austausch? Die Verbindung zu Europa?

Kathy-Liana BRAVO: Noch zu oft betrachten wir Martiniquais uns nur als Inselbewohner. Die Archipel-Dimension unserer Identität ist uns noch nicht bewusst, auch wenn in dieser Hinsicht Entwicklungen zu verzeichnen sind. Aus historischen Gründen beschränkten sich Reisen aus den Kolonien und ehemaligen Kolonien oft auf die europäischen Metropolen bzw. die Hauptstädte. Es bedarf eines echten politischen Willens, um diese Gewohnheiten zu dekonstruieren, Reisegewohnheiten zu ändern und einen echten Austausch zu ermöglichen, der mit der Geografie im Einklang steht. Es handelt sich also um einen sehr langsamen und langwierigen Prozess. Trotz der Politik der regionalen Integration. Die Französischen Antillen erscheinen wie zwei einzigartige Inseln, die inmitten der englischsprachigen Kleinen Antillen und gegenüber dem spanischsprachigen Karibischen Meer liegen. 

Die Arbeit daran, uns bewusst zu machen, wer wir sind und was wir zur Welt beitragen, ist dank der zunehmenden Mobilität im Gange. ERASMUS+ eröffnet jungen Menschen interessante Perspektiven.  Die Maßnahme bietet die Möglichkeit, die Frage nach der Verbindung zu Europa auf andere Weise anzugehen. Diese Verbindung ist mit Geschichte und mentalen Bezügen aufgeladen, die dekonstruiert werden müssen, damit eine neue Realität existieren kann. Es ist auch eine Gelegenheit, Verbindungen zu anderen Ländern der Karibikregion zu knüpfen. Der Handel in der Region - einschließlich der Region Grande Caraïbe- ist oft ein Erbe von Praktiken und häufig auf sehr spezifische Sektoren beschränkt, ohne dass es wirklich gelungen ist, ihn so zu nutzen, damit möglichst viele Menschen die Vorteile verstehen und erkennen können. In dieser Hinsicht können Austauschprogramme die Entwicklung neuer Praktiken ermöglichen. Die Akteure in den Verbänden und Institutionen wissen jedoch, dass es Zeit braucht, um die Maßnahme positiv zu besetzen.

In sprachlicher Hinsicht ist ERASMUS+ ein großartiges Instrument. Wir müssen es vielen jungen Menschen ermöglichen, sich besser in ihren regionalen Raum zu integrieren, indem sie fließend Spanisch und Englisch sprechen! 

Zwar wird auf den Nachbarinseln häufig auch Kreolisch gesprochen, aber der Archipel ist groß und es braucht Hilfe, um ihn in seiner Gesamtheit zu entdecken.

David LOPEZ: Martinique zu verstehen ist entscheidend für die Entwicklung von Aktivitäten in allen Bildungsbereichen. Die Erwachsenenbildung ist dabei ein grundlegendes Element. Wie siehst du diesen Punkt?

Kathy-Liana BRAVO: In meinem Gebiet gibt es eine starke Überalterung, und die Zielgruppe der jungen Erwachsenen auf der Insel wird beim kulturellen Angebot oft weniger gut berücksichtigt. Sie sind die zahlenmäßig kleinste Altersgruppe in der Region. Paradoxerweise glaube ich wirklich, dass sie diejenigen sind, die mehr Gehör finden sollten, um eine oftmals endgültige Abwanderung zu verhindern und ein dauerhaftes lokales Leben zu stärken. Ich finde meine Aufgabe im Labo des Histoires sehr spannend. Im Kontakt mit den jungen Erwachsenen von Martinique lerne ich auch viel über das heutige Martinique und über das Martinique, von dem sie träumen und von dem wir eigentlich alle träumen sollten.

David LOPEZ, EPALE-Experte Frankreich

Kontakt: kathy-liana.bravo@labodeshistoires.com 

[Ubersetzung NSS EPALE France]

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