Was uns die Erzähltheorie über Verschwörungstheorien lehren kann

Verschwörungstheorien sind in den letzten Jahren zu einem der meist diskutierten Themen geworden. Als das Kapitol in Washington DC 2021 gestürmt wurde, taten viele Bürger:innen dies aus der Überzeugung heraus, dass die Wahl 2020 „getürkt“ wurde und die offiziellen Ergebnisse demnach ungültig waren. Etwa zur selben Zeit stießen die Kampagnen für die COVID-19-Impfung auf den erbitterten Widerstand einer lauten und streitlustigen Masse, in deren Augen die Impfung nicht der willkommene Ausweg aus der Pandemie war, sondern das Werkzeug einer sinistren globalen Macht zur Unterjochung der Bevölkerung.
Die Gefahren des Glaubens von Verschwörungstheorien:
„Was die Menschen glauben, lenkt ihr Verhalten; und wenn die Menschen an Verschwörungstheorien glauben, deren Beweislage sehr dünn ist, fällt dieses Verhalten möglicherweise irrational und schädlich aus.“ (van Proojinen 2019: 432).
Eine Lehrbuchdefinition beschreibt eine Verschwörungstheorie als eine nur schwach gestützte Überzeugung, dass historische Ereignisse das Ergebnis eines böswilligen Plans einer Personengruppe mit schlechten Absichten sind. Eine Verschwörungstheorie geht davon aus, dass nichts zufällig geschieht, dass die Dinge nicht so sind, wie scheinen, und dass alles miteinander zusammenhängt. Frühe Studien, die sich mit Verschwörungstheorien befassten, interpretierten diese in pathologischer Hinsicht. Verschwörungsglauben wurde mit einer paranoiden Persönlichkeit in Verbindung gebracht. Doch inzwischen wird diese Sichtweise von Wissenschaftler:innen als problematisch angesehen. So weisen diese zum Beispiel darauf hin, dass sich Verschwörungstheorien in der Literatur und der Popkultur immer größerer Beliebtheit erfreuen.
Wie man Verschwörungsglauben begegnen kann
Inzwischen ist es Pädagog:innen ein wichtiges Anliegen herauszufinden, wie man verschwörungstheoretischem Denken wirkungsvoll entgegentreten kann. So wurden verschiedene Ansätze vorgeschlagen, wie etwa Entlarvungs-Übungen und Faktenchecks.
Doch diese Ansätze sind in ihrer Wirkung stark eingeschränkt: Entlarvungs-Übungen provozieren manchmal den sogenannten Bumerang-Effekt: Ganz im Gegensatz zur eigentlichen Zielsetzung erinnern sich die Lernenden möglicherweise nicht mehr daran, was an einer bestimmten Erzählung falsch oder richtig war, sondern nur daran, dass „da irgendwas durch die Regierung vertuscht wurde“. Zudem neigen verschwörungstheoretische Narrative dazu, Fakten als Waffe zu nutzen, wodurch die Richtigstellung ebendieser Fakten in einem unproduktiven Wirrwarr einander widersprechender Datensätze enden kann.
Eine kürzlich von O`Mahony, Brassil, Murphy & Linehan (2023) durchgeführte Studie hat gezeigt, dass das beste Mittel gegen Verschwörungsglauben in präventiven Interventionen liegt, die sich darauf konzentrieren, kritisches Denkvermögen und eine analytische Herangehensweise zu fördern, wohingegen Gegenargumente nicht effektiv sind.
Dem würde ich hinzufügen, dass wir bei unserem Versuch, den durch Verschwörungsglauben entstandenen Schaden zu reduzieren, mehr auf die Erzählstruktur von Verschwörungsmythen achten und versuchen sollten, die inhärenten Wahrheitsansprüche im Narrativ besser zu verstehen.
Zum größten Teil stimmen wir mit dem überein, was Philosoph:innen die Korrespondenztheorie der Wahrheit nennen: Eine Aussage ist wahr, wenn sie mit einer beobachtbaren, empirischen Realität übereinstimmt. Doch nicht alle Aussagen lassen sich so einfach mit der Realität übereinbringen. Ein einfaches Beispiel wäre hierbei die Frage: Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? (Antwort: Das kommt darauf an, wie durstig man ist!)
Wenn die Korrespondenz objektiv hergestellt werden kann, handelt es sich um eine Tatsache. Tatsachen spielen eine wichtige Rolle darin, wie wir tagtäglich durchs Leben gehen: Wenn der Zug um 7:12 Uhr abfährt, muss ich zu diesem Zeitpunkt am richtigen Gleis sein. Sonst verpasse ich ihn. Doch die Welt lässt sich nicht auf bloße Fakten reduzieren: Wir haben persönliche Vorlieben, Werte, Gefühle und Emotionen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen. Und auf einer existentiellen Ebene neigen wir dazu, nach einem Sinn zu suchen. Ein Beispiel: Wenn man Menschen fragt, was sie an Ärzt:innen besonders schätzen, nennen die wenigsten deren Fähigkeit, korrekte Diagnosen zu stellen und ihre Patient:innen zu behandeln. Natürlich befinden sich diese Dinge unter den wichtigsten Faktoren, doch am allerwichtigsten ist den meisten jemand, der ihnen zuhört und sie versteht. Nackte Tatsachen helfen uns nicht, wenn wir uns verwundbar fühlen.
Man könnte behaupten, dass es ähnliche Mechanismen sind, die uns für verschwörungstheoretische Erklärungen empfänglich machen. Die Erklärungen, die sie anbieten, widersprechen vielleicht empirischen Beweisen, doch sie ergeben Sinn. Das bezeichnen Philosoph:innen als hermeneutische Definition der Wahrheit. Hermeneutik bedeutet, dass immer ein Element der Interpretation mit im Spiel ist, und auch wenn das abstrakt klingen mag, wenden wir diese hermeneutische Wahrheit dauernd an: Wenn wir Sarkasmus und Ironie verwenden, sagen wir das eine, meinen aber das andere. Ähnlich verhält es sich mit Metaphern: Würden wir sie wörtlich nehmen, ginge unser tägliches Leben in einem Chaos von Missverständnissen unter.
Verschwörungstheorien und erzählerische Überzeugungskraft
1991 veröffentlichte der amerikanische Psychologe Jerome Bruner einen Essay mit dem Titel „The Narrative Construction of Reality“ (sinngemäß: Die erzählerische Konstruktion der Realität), in dem er zehn Eigenschaften einer Erzählung beschrieb und erklärte, wie diese unser Verständnis und unsere Orientierung in der Welt formen. Einige dieser Eigenschaften sind äußerst hilfreich, wenn es darum geht, zu verstehen, wie eine Erzählung überzeugend sein und manchmal sogar richtiger erscheinen kann als Tatsachen.
Laut Bruner haben Erzählungen eine verzerrte zeitliche Struktur, in der Zeitlichkeit nicht an Uhren gebunden ist (also an Instrumente, die der objektiven Zeitmessung dienen), sondern an menschlich relevante Handlungen, die innerhalb des Handlungsrahmens stattfinden. Der Slogan „Make America great again“ (Macht Amerika wieder großartig) impliziert eine solche verzerrte zeitliche Struktur, da er sich auf eine idealisierte Vergangenheit bezieht, die möglicherweise nicht mit den historischen Tatsachen übereinstimmt. Dieses Phänomen schließt auch die Bedeutung ein, die „Wendepunkten“ (sowohl historisch als auch persönlich) zugemessen wird. In einer Handlung kann ein einziges Ereignis den Verlauf der Dinge verändern, während die Dinge im wirklichen Leben meist sehr viel komplexer liegen.
Ein verwandtes Phänomen ist die Tatsache, dass in Erzählungen das Problem im Mittelpunkt steht und sich die Handlung um die Verletzung von Normen dreht. Eine typische Struktur ist die Gleichgewicht-Ungleichgewicht-Gleichgewicht-Struktur, bei der ein Bösewicht einen ursprünglich harmonischen Zustand unterbricht und der Held schließlich auf die Bühne tritt, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Zudem handeln Erzählungen von bestimmten Ereignissen, die jedoch in eine erkennbare, allgemeingültige Form gebracht werden müssen, um ihre Bedeutung zu erhalten. Das Narrativ von Held und Bösewicht ist ein Beispiel einer solchen allgemeingültigen Struktur; ein anderes ist der Außenseiter, der sich ungerechten Machtverhältnissen entgegenstellt. Außerdem wird in Erzählungen immer davon ausgegangen, dass Akteur:innen aus einem bestimmten Grund handeln: „Jede Handlung hat ihren Grund“, und wenn wir dieser Erzählstruktur folgen, suchen wir nach Gründen statt nach Ursachen. Und schlussendlich muss, wie ich schon erwähnt habe, erzählerische „Wahrheit“ nicht unbedingt irgendeiner messbaren empirischen Tatsache entsprechen.
Das bedeutet: Eine Erzählung ist eine Methode, um Informationen stimmig und sinnvoll zu strukturieren. Kurz gesagt: Sie sorgt dafür, dass die Dinge „Sinn ergeben“. Ich möchte nicht darauf hinaus, dass Erzählungen schlecht sind und Tatsachen gut; vielmehr möchte ich betonen, wie sie koexistieren und dass wir in unserem täglichen Leben auf beide angewiesen sind. Dennoch ist es wichtig zu verstehen und zu erkennen, welchen Reiz Erzählstrukturen auf unsere Wahrnehmung der Welt ausüben. Es ist offensichtlich, dass verschwörungstheoretische Überzeugungen auf erzählerischer Überzeugung aufbauen.
Die erzählerische Konstruktion der Realität ist für unsere Kultur von grundlegender Bedeutung. Manche Evolutionsbiolog:innen behaupten gar, dass unsere Spezies mit dem einzigartig menschlichen Drang geboren wird, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft miteinander in Verbindung zu bringen. 5). Entwicklungsgeschichtlich ist dieser Drang für uns Menschen von Vorteil gewesen, denn dadurch konnten wir Wissen und Erfahrung bewahren. Dennoch hat sich dieses Instrument im Informationszeitalter als gefährlich herausgestellt.
Literaturverzeichnis
Bruner, J. (1991). The Narrative Construction of Reality. Critical Inquiry, 18(1), 1–21. http://www.jstor.org/stable/1343711
Handler Miller, C. (2014) Digital Storytelling: A Creator’s Guide to Interactive Entertainment 3rd ed. Focal Press.
O’Mahony, C., Brassil, M., Murphy, G., & Linehan, C. (2023). The efficacy of interventions in reducing belief in conspiracy theories: A systematic review. Plos one, 18(4), e0280902.
Van Proojinen, JW (2019) Empowerment as a Tool to Reduce Belief in Conspiracy Theories. In Uscinski, JE (ed.) Conspiracy Theories & the People Who Believe Them. Oxford University Press.
Über den Autor
Linus Andersson ist außerordentlicher Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Hochschule Halmstad in Schweden und Teil des EPALE-Expert:innenpools. Andersson hat zu Alternativen Medien und Medienaktivismus sowie Medienkompetenz und Kritischem Denken veröffentlicht. Momentan arbeitet er in einem bereichsübergreifendem Projekt mit, das eine Intervention zur Förderung von Medienkompetenz entwickeln und anschließend evaluieren soll. Die Zielgruppe dieser Intervention sind Highschool-Schüler:innen, deren kritisches und analytisches Denken verbessert werden soll, um die negativen Auswirkungen von Desinformation und Verschwörungstheorien abzumildern.
Excellent Piece
Thank you Linus, that was an excellent read, and I have just ordered my copy of "Digital Storytelling: A Creator’s Guide to Interactive Entertainment".
Pitting a constructed narrative (fabricated, and built with intent) against an applied narrative (communicating or publicizing a truth) can give the former a strategic advantage that can be hard to counter. A conspiracy can adapt and shift its focus in response to debunking, so naturally fostering an environment of critical thinking will always be the most effective measure.