Was ist Demokratiepädagogik?

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Der Originalbeitrag ist ursprünglich im Journal für Politische Bildung erschienen.
Demokratiepädagogik ist das Dachkonzept für ein traditionsreiches schulpädagogisches Arbeitsfeld, das u.a. durch das BLK-Modellprogramm „Demokratie lernen und leben“ der Gruppe um Wolfgang Edelstein und Peter Fauser einen neuen kräftigen Impuls erhalten hat. Das Interesse gilt einer „Radikalisierung der Schulreform“ (Beutel u.a. 2022: 782) durch Gestaltung demokratischer Bildungslandschaften und lebensweltliche Bezüge im schulischen Ganztag. Interdisziplinär begleiten daher auch Sozialpädagogik, Elementarpädagogik, außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung, Erziehungsphilosophie, Bildungssoziologie sowie einzelne Fachdidaktiken das demokratiepädagogische Arbeitsfeld.
DEMOKRATIEPÄDAGOGIK ALS NORMATIVER IMPERATIV VON SCHULE
Auf der Ebene von Leitbildern ist Demokratiepädagogik „top-down“ längst zum zentralen normativen Imperativ von Schul- und Unterrichtsentwicklung geworden. Wird in programmatischen Texten oft der hohe Ton einer „Ordnung wie ein Paradies“ (Siegfried Landshut 1957) angeschlagen, gibt es auf der Ebene praktizierender Demokratiepädagogik „bottom-up“ beeindruckende Berichte und Lernmaterialien zu good-practiceProjekten, Wettbewerben oder zivilgesellschaftlichen Initiativen. Demokratiepädagogik boomt und vermag als catch-all-Begriff auch heterogene bildungspolitische Interessen zu vereinen.
Meine zentrale These lautet daher, dass Demokratiepädagogik inzwischen eine reflexive, selbstkritische Wendung auf ihre eigenen Erfolge nehmen kann und muss. „MachtReflexion!“ – so überschreibt Kurt Edler (2017), langjähriger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik, dieses Arbeitsprogramm. An Beobachtungen in Lernentwicklungsgesprächen und auf einem Bauspielplatz veranschaulicht er diese reflexiv-professionelle Haltung. Demokratiepädagogik in einer „Phase der Konsolidierung“ (Beutel u.a. 2022: 37) lässt es zu, die „sich stetig erweiternden praktischen Erfahrungen“ (ebd.: 15) einer konstruktiven Kritik zu unterziehen.
Empirische Problemanzeigen
Vor allem aus der qualitativen, praxislogischen oder ethnomethodologischen Schulforschung gehen selbstkritische Fragen hervor:
- Vertraglichung (contractualism): Fallstudien zu Lernverträgen, „Ampelsystemen“ oder „Trainingsräumen“ (Budde 2021) zeigen neue, subtile Disziplinartechniken. In allgegenwärtigen schulischen Rückmeldekulturen setzt sich ein doing difference durch Kategorisieren, Bewerten, Teilhaben und Weitergeben fort (Steinwand et al. 2018).
- Versicherheitlichung (securitization): Als zeitdiagnostische Hintergrundfolie überwiegt das Bedrohungsszenario einer „angegriffenen Demokratie“, worauf mit Prävention pädagogisch reagiert werden müsse. Demokratiepädagogik sucht nach „bindenden Kräften“ und einem sozialen Band. Die ihr damit zugesprochene „Feuerwehrfunktion“ für gesellschaftliche Problemlagen wird in Projekten zur Deradikalisierungsarbeit und zu „demokratischer Resilienz“ deutlich (Edler 2017).
- Partizipationsimperative (empowerment und subjectivation): „Wir machen mit!“, „Setz Dich ein!“ oder „Wir sind einzigartig!“ Solche Adressierungen, die sich in Klassenregeln oder Kampagnen für gesellschaftliche Vielfalt finden, können Selbstwirksamkeitserleben unterstützen, aber auch eine individuelle Verantwortlichkeit für strukturelle Ungleichheiten suggerieren. Unreflektierte Selbstoptimierung macht Demokratiepädagogik ungewollt zum Elitenprojekt. Das Versprechen von Autonomie kann als von oben angeordnete, normierende Verpflichtung und als Kontrollmechanismus erlebt werden.
Schulen wie auch andere pädagogische Organisationen sind strukturell wie personell durch ein hierarchisches Machtgefälle geprägt, das durch Demokratisierungsprozesse immer nur partiell problematisiert werden kann. Oft ist daher grundsätzlich bezweifelt worden, inwiefern eine staatliche Schule mit ihrem Sonderrechtsverhältnis (Schulpflicht), mit ihrer Allokations- und Selektionsfunktion überhaupt als demokratische Institution gelten könne.
DEMOKRATIETHEORIE IN SCHULE BRAUCHT EINE ANDERE AUSLEGUNG
Entsprechende Antinomien des Lehrer*innenhandelns sind von der schulpädagogischen Professionsforschung systematisch und empirisch dargelegt worden (Helsper 2021). Eine realistische Demokratietheorie muss in der Strukturlogik von Schule anders ausgelegt werden als in der Sphäre der Politik, will man nicht die Erziehungsaufgabe überhaupt negieren und eine konsequent anti-pädagogische Position einnehmen.
Reflexive Demokratiepädagogik als Demokratisierung
Nur wenn eine sich weiter professionalisierende Demokratiepädagogik ihre eigenen erfolgreichen Praxisformen selbstreflexiv zum Thema macht, kann der Eindruck vermieden werden, es handle sich um eine „Pathosformel“ einer globalen „Citizenship industry“, der man sich anschließen kann oder eben auch nicht. In der öffentlichen bildungspolitischen Kommunikation entstünde dann eine sich selbst verstärkende Dynamik, die der Philosoph und Pädagoge Jonas Cohn in einer Reflexion über „Staatsbürgerliche Erziehung und Parteigesinnung des Lehrers“ in den Wirren der Weimarer Demokratie einmal als die „Eselfrage“ bezeichnet hat: In einer Auseinandersetzung „scheint darum gestritten zu werden, wer von beiden der Dumme ist“ (Cohn 1925: 195). In internen schulischen Machtkämpfen (Retzar 2021) kann ‚Demokratie‘ als moralisches Argument strategisch verwendet werden. In binären Diskursarenen stehen auf der einen Seite die Reformer, die sich unermüdlich für Demokratie engagieren und ‚kämpfen‘, und es gibt die Traditionalisten oder Apathischen, die die Dramatik der Lage noch immer nicht verstanden haben. Am Ende stehen Enttäuschungen oder gar die Rückabwicklung demokratischer Schulentwicklung und kooperativer Lernkultur.
Demokratie ist in Lernprozessen nie zu ‚haben‘, vielmehr immer nur als Verfahren der Demokratisierung gestaltbar. Nur so wäre die Frage professionell gestellt, ob eine Lernsituation als ‚demokratisch‘ gelten kann (oder nicht). Demokratiepädagogik hat daher eine natürliche Nähe zu Demokratietheorien, die Demokratie als radikal offenen Diskursraum begreifen. „In der Werkstatt der Demokratie sind wir alle Lehrlinge“ (Rosanvallon 2021, 351). In einer solchen machtkritischen Perspektive liegt eine tragfähige und lernproduktive Verbindung zur politischen Bildung.
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Über den Autor
Prof. Dr. Tilman Grammes lehrt Erziehungswissenschaft/ Didaktik sozialwissenschaftlicher Fächer an der Univ. Hamburg. Er versucht, Demokratiepädagogik in der Lehrerbildung zu verankern, war Mitglied des wiss. Beirats im BLK-Modellprogramm „Demokratie lernen und leben“ und Mitherausgeber des Jahrbuchs für Demokratiepädagogik. Er engagiert sich im DFG-Netzwerk Demokratiebildung und politische Bildung und in der Jury des Wettbewerbs Demokratie erleben der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik.
Literatur
Beutel, Wolfgang u.a. (Hg.) (2022): Handbuch Demokratiepädagogik. Frankfurt/M.
Budde, Jürgen u. a. (2021): Contractualism as an Element of Democratic Pedagogy? In: Journal of Social Science Education, 4, S. 48–71.
Cohn, Jonas (1925): Staatsbürgerliche Erziehung und Parteigesinnung des Lehrers. In: ders.: Befreien und Binden. Zeitfragen der Erziehung überzeitlich betrachtet. Leipzig, S. 188–199.
Edler, Kurt (2013): Macht-Reflexion! Ein politischer Zwischenruf. In: Fauser, Peter/Beutel, Wolfgang/ John, Jürgen (Hg.): Pädagogische Reform. Seelze, S. 107–111 (auch online verfügbar: http://www. edlerhh.de/wp-content/uploads/2014/02/ KE-Machtreflexion-ein-Zwischenruf.pdf).
Helsper, Werner (2021): Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns. Eine Einführung. Opladen.
Retzar, Michael (2020): Partizipative Praktiken an Demokratischen Schulen. Schulkulturen mit umkämpfter Schulentwicklung. Wiesbaden.
Rosanvallon, Pierre (2021): Neue Formen der demokratischen Repräsentation. Ausgewählt und eingeleitet von Rieke Trimcev. In: Buchstein, Hubertus/Pohl, Kerstin/Trimcev, Rieke (Hg.): Demokratietheorien. Frankfurt/M., S. 344–352.
Steinwand, Julia/Schütz, Anna/Gerkmann, Anna (2018): Doing Difference beobachten – Selbstständigkeit als Leistung im individualisierten Unterricht. In: Behrmann, Laura/Eckert, Falk/Gefken, Andreas (Hg.): Doing Inequality. Prozesse sozialer Ungleichheit im Blick qualitativer Sozialforschung. Wiesbaden, S. 83–100.