Lebensbegleitende berufliche Orientierung in unsicheren Zeiten : eine Frage von Begegnungen?

[Übersetzung : EPALE Frankreich]
Lebensbegleitende berufliche Orientierung in unsicheren Zeiten: Der Service „Rencontre un pro - Triff einen Profi“ in der Region Pays de la Loire
Lebensbegleitende Berufsberatung und Umschulungen nehmen heute eine völlig neue Form an. Die unerwarteten und abrupten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt stellen das bestehende Angebot an Beratungs- und Betreuungsdiensten in Frage, die jedem Einzelnen dabei helfen sollen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Zwar sind sich alle einig, dass die Freiheit, seine berufliche Zukunft selbst zu bestimmen, wichtig ist (wie es im gleichnamigen Gesetz heißt), doch die Schwierigkeiten bei der Einstellung, aber auch der rapide Rückgang an Bewerberzahlen in früher schwer zugänglichen Sektoren (z. B. Sozialarbeit) haben wie ein Schock gewirkt, so dass ein systematischer Blick auf die Faktoren notwendig ist, die hier wirken, zumal diese Phänomene nicht nur in Frankreich auftreten, sondern in allen OECD-Ländern zu beobachten sind. Der Arbeitsmarkt für Führungskräfte wird auch durch Kündigungswellen erschüttert, die auf dieser Ebene vorher selten zu beobachten waren.
Ein Mangel an Fachkräften, der die Verhandlungspositionen neu ordnet
Dies führt de facto zu einer Neuordnung der möglichen Beziehungen zwischen allen Akteuren des Systems Beratung/Berufsbildung/Beschäftigung. Mit einer klaren Konsequenz für alle: Die Person, die „ihren Weg“ sucht, wird nicht mehr als bloßes Individuum gesehen, das es auszuwählen gilt, sondern als potenzieller Arbeitnehmer, den es auch zu überzeugen gilt. Der Begriff „Darauf zugehen“ taucht in Aufgabenbeschreibungen auf. Wir stehen erst am Anfang dieser Neukonfiguration, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Gestaltung von Teams haben wird. Es wird nämlich oft vergessen, dass die Konzepte der Berufsorientierung im Wandel historisch auf dem Zustand des Arbeitsmarkts basieren. Wenn es mehr Möglichkeiten gibt, sind die Verhandlungen offener, und der Arbeitgeber kann die Einstellungsbedingungen nicht mehr allein und im Voraus festlegen, sondern muss Spielraum für Verhandlungen lassen.
Die Rolle der Unternehmen bei der beruflichen Orientierung
In dieser Hinsicht war die Frage nach der Beteiligung der Unternehmen oft polemisch. Ihnen wird oft vorgeworfen, sich nicht ausreichend um die Entwicklungsmöglichkeiten von veränderungswilligen Beschäftigten zu kümmern und auch nicht alle Eingliederungsmaßnahmen für Neuzugänge anzubieten. Doch diese Debatte, die zwar wichtig ist, verdeckt auch viele wenig sichtbare Initiativen und Entwicklungen. Darüber hinaus scheint uns eine weitere Frage wichtig zu sein: die zur Einbindung von Arbeitgebern und Fachkräften in die gründliche Kenntnis des sozioökonomischen Umfelds und in den Aufbau und die Erweiterung der beruflichen Zielgruppen. Sich für wenig bekannte Berufsfelder oder Berufe zu öffnen, Neugierde für die Berufswege von Gleichaltrigen zu entwickeln, andere Optionen als die von den Medien aufgewerteten zu erkunden - all dies sind Herausforderungen, die den freien Willen des Einzelnen mit der Anpassung an die Realität der Arbeitswelt in Einklang bringen können. Nur so, durch anspruchsvolle und subtile pädagogische Überlegungen, kann man sich von den Beschränkungen veralteter und unwirksamer Adäquatismus-Ansätze befreien.
Diese Herausforderung darf man nicht auf eine Frage der Information oder Motivation reduzieren
Die Problematik lässt sich weder auf reine Informationsfragen noch auf die bloße Aufwertung von oftmals idealisierten Berufsinteressen reduzieren. Zahlreiche gut dokumentierte Studien zur Konstruktion von Berufsvorstellungen zeigen deutlich, dass solche vorgefassten Ideen nur schwer zu verändern sind.
Außerdem klingt die weit verbreitete Idee einer Berufung, die bloß darauf wartet, erkannt und mit realen Angeboten „zusammengebracht“ zu werden, eher nach einer wenig realistischen Phantasievorstellung (Es gibt einen Beruf, der für mich gemacht ist, ich muss nur tief in mich blicken, um herauszufinden, welcher) als nach der Realität einer Berufslaufbahnen.
In dieser Hinsicht sprechen berufliche Werdegänge für sich. France compétences hat im Februar 2022 den Abschlussbericht einer groß angelegten Studie „Parcours de reconversion professionnelle“ veröffentlicht, der interessante Einblicke bietet.
Zwei Studienbriefe fassen die gesammelten Schlüsselelemente zusammen: Nr. 4 mit dem Titel „Des reconversions professionnelles variées et éloignes des modèles linéaires“ (Umschulungen fernab von linearen Modellen ) und Nr. 5 „L'offre publique d'accompagnement à l'épreuve des reconversions professionnelles “ (Öffentliche Angebote zur Begleitung von Umschulungen ). Die Studie befasst sich speziell mit individuellen Erfahrungen bei der beruflichen Neuorientierung. Sie ist für die kommende Zeit von großem Interesse, da sie eine Reihe von Stereotypen zu diesem Thema in Frage stellt. Umschulungen sind deutlich vielfältiger als erwartet. Die Studie widerlegt einheitliche und lineare Sichtweisen auf Umschulungen und hinterfragt auch die Betreuung und die Art und Weise, wie die Befragten diese verstehen.
Es zeigt sich, dass der Stellenwert der Gelegenheit weniger lineare und vertikale kognitive Erkundungsmechanismen voraussetzt, die auf iterativeren, weniger schulischen und formalen Prozessen beruhen, die Begegnung und Menschlichkeit in die Informationsprozesse bringen. Man muss akzeptieren, dass man die Richtung ändern kann, den Fokus erweitern, sich für neue Chancen öffnen, die auf den ersten Blick ausgeschlossen waren, und durch Berichte anderer und eigene Erfahrungen herausfinden, was einem zusagen könnte.
Es gibt bereits zahlreiche Initiativen wie Foren oder sogar Erkundungen durch „Serendipity“. Man kann Formen des Dienstes entwickelt werden, die auf direkten Begegnungen setzen. Kurz gesagt: man sollte sowohl die gemeinschaftliche als auch die solidarische Dimension nutzen (eine helfende Hand reichen), sich auf vereinfachten direkten Kontakt ohne Vermittler stützen und den Akteuren vertrauen, dass sie den Dienst am Leben erhalten. Die Initiative der Region Pays de la Loire zum Service „Rencontre un pro“ ist für diesen Ansatz sehr typisch. Er wurde von CARIFOREF Pays de la Loire entwickelt und wir haben Nadine Morilleau gebeten, uns davon zu erzählen.
Können Sie uns die Gründe nennen, die Sie dazu veranlasst haben, diesen Dienst zu entwickeln?
Von 2013 bis 2018 wurde Cariforef vom Staat und der Region beauftragt, die Vernetzung der Einrichtungen der regionalen öffentlichen Berufsorientierung und des Rats zur Berufsberatung zu fördern. Der Austausch zwischen Berufsberatern und Studien zeigte uns, dass reale Werdegänge mindestens ebenso sehr das Ergebnis von Gelegenheiten (insbesondere Arbeiten in der Nähe des Wohnorts) wie von langfristig angelegten Berufsplänen waren. Im Mai 2018 veranstalteten wir einen regionalen Tag zum Thema „Begegnung mit Betrieben“, an dem wir fünf Paarungen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern, „die nicht das erforderliche Profil hatten“, einluden, um über ihre Begegnung zu berichten. Unser Gast, André Chauvet, wies zum Abschluss der Podiumsdiskussion und seines Vortrags darauf hin, dass die Rolle eines öffentlichen Beratungsdienstes zweifellos darin bestehe, die Gelegenheit für eine Begegnung zu schaffen. An diesem Tag gaben wir bekannt, dass wir einen Online-Dienstes aufbauen würden, der die Durchführung von berufsberatenden Gesprächen erleichtern sollte.
Können Sie uns das genauer beschreiben? Wie läufr das ab?
Im Mai 2020 wurde der Dienst „ Rencontre un pro“ ins Leben gerufen. Ziel ist es, allen den Zugang zu einem Netzwerk zu ermöglichen und die Kontaktaufnahme mit Fachleuten zu erleichtern, die sich freiwillig bereit erklären, über ihren Beruf zu sprechen.
Konkret handelt es sich um einen Dienst, der zur einfachen Inanspruchnahmen konzipiert wurde. Für die Nutzer ist das Expertenverzeichnis ohne Erstellung eines Kontos zugänglich. Sie gelangen über die Website „choisirmonmétier-paysdelaloire.fr“ oder über eine Suche nach einer Ausbildung oder einer Berufsbeschreibung zu dem Verzeichnis. Mit einem einfachen Klick auf ein Profil kann man eine E-Mail an den Profi schicken und ihn fragen, ob ein Treffen möglich ist. Beide Seiten erhalten per E-Mai einen Gesprächsleitfaden zugeschickt.

Berufstätige legen ein Konto an, in dem sie ein oder zwei Berufe angeben, über die sie berichten können. Sie wählen die Anzahl der Anrufe, die sie pro Monat bereit sind zu beantworten. Wenn sie eine Kontaktanfrage erhalten, reagieren sie darauf, indem sie die Austauschmodalitäten ihrer Wahl vorschlagen: einen Austausch per Telefon oder Videokonferenz, ein Treffen am Arbeitsplatz oder an einem Drittort.
Welche Lehren ziehen Sie nach fast zwei Jahren und welche Perspektiven eröffnet dies für den Beratungsdienst?
In den ersten Monaten nach der Online-Schaltung stellten wir überrascht fest, dass 95 % der Treffen per Telefon oder Videokonferenz stattfanden. Die Gespräche mit den angemeldeten Fachkräften haben uns jedoch gezeigt, dass diese Form des Treffens immer beliebter wird, da sie flexibler ist als ein Präsenztermin. Zwei Jahre später hat sich der Anteil der Distanz-Treffen nicht verringert, und wir glauben, dass der Dienst in diesem Sinne das klassische Format der Berufsberatung modernisiert. Das angestrebte Ideal wäre, dass diese Treffen zu normalen Etappen bei jeder Berufsorientierung werden und so oft wie gewünscht wiederholt werden.
Konkret generiert der Dienst derzeit jeden Monat mehr als 200 Treffen. Bisher wird es hauptsächlich von Erwerbstätigen genutzt: Arbeitssuchende (43 %), Beschäftigte in der Privatwirtschaft (34 %) sowie Beamte und Vertragsbedienstete (6 %).
Auf der beruflichen Seite haben wir bislang 520 Fachkräfte, die etwa 200 verschiedene der 500 Berufe des Rom-Verzeichnisses vertreten. Als öffentlicher Dienst wird es in den nächsten Jahren unser Ziel sein, die Berufsauswahl weiter auszubauen, um alle Berufe der Regionen zu repräsentieren. Vor allem, da 90 % der eingetragenen Fachkräfte kontaktiert werden. Zu diesem Zweck führen die Region und wir eine Vielzahl von Kommunikationsmaßnahmen (soziale Netzwerke, Artikel in den Magazinen der Gebietskörperschaften usw.) und Partnerschaften mit Branchen und Unternehmen durch. Wir stellen bereits fest, dass Angehörige bestimmter Berufe bereitwilliger teilnehmen als andere. Derzeit sind die am stärksten vertretenen (und gefragtesten) Berufe in den Bereichen Personalwesen, Ausbildung, Beratung und Digitaltechnik.
Wie wirken sich die Treffen auf die Orientierungsprojekte aus? Nach mehr als der Hälfte der Gespräche haben die Nutzer weiterhin Interesse an dem jeweiligen Beruf. Das Treffen generiert verschiedene Möglichkeiten: Kontaktaufnahme mit anderen Fachkräften (20 %), Praktikum (10 %) oder ein weiteres Gespräch mit dem Betrieb (6 %). Umgekehrt führen 10 % der Treffen dazu, dass den Nutzern bewusst wird, dass der Beruf nicht zu ihnen passt, wodurch wenig erfolgsversprechende Ausbildungen oder Umschulungen vermieden werden.
Schlussfolgerungen und Ausblick
In einer Zeit, in der die Frage nach der Attraktivität bestimmter Branchen oder Berufe im Fokus steht, in der jeder die mangelnde Abstimmung zwischen der Realität des Arbeitsmarkts (die sich selbst mittelfristig kaum vorhersehen lässt) und den Wünschen der Zielgruppe beklagt, ist die Frage nach den Zugangsmodalitäten zu lebendigen und von Menschen getragenen Informationen mehr denn je eine Herausforderung. Die Zielgruppe ist an Informationen interessiert, die in Lebensgeschichten eingebettet sind. Es gibt natürlich Debatten über die Zuverlässigkeit von Erfahrungsberichten, aber das setzt auch voraus, dass Dienst in ein breiteres Angebot integriert wird, bei dem die Fachkraft eine Vermittlungsfunktion wahrnimmt (fundierte Entscheidungen mit Quellen treffen, deren Zuverlässigkeit umstritten ist). Es sind also mehrere Dimensionen beteiligt, die für die Entscheidungen von entscheidender Bedeutung sind: die Modalität und ihre Einfachheit; die Möglichkeit eines Treffens (online oder persönlich); Informationen, die in eine Lebensgeschichte eingebettet sind und von Personen vermittelt werden. Der Dienst geht in diese Richtung, aber man kann darüber hinaus blicken und sehen, wie solche pädagogischen Prinzipien stärker gemeinschaftsorientierte, weniger formelle und immer wieder nutzbare Dienste begründen könnten. Zum Nutzen aller.
André Chauvet, Experte für EPALE Frankreich
https://www.francecompetences.fr/app/uploads/2022/02/Note-détudes_N4_Reconversion-2.pdf
https://www.francecompetences.fr/app/uploads/2022/02/Note-détudes_N5_Reconversion.pdf