Ein französisch-belgischer Blick auf die Erwachsenenbildung in Italien



[Übersetzung : EPALE Frankreich]
Auf Einladung des italienischen Koordinators der Europäischen Agenda für Erwachsenenbildung (AEFA) war eine französisch-belgische Delegation vom 2. bis 4. Mai auf Studienbesuch in Rom. Diese Delegation bestand aus den nationalen Koordinatoren aus Frankreich (Agence Erasmus+ France / Education Formation) und aus dem französischsprachigen Belgien (Ministère Fédération Wallonie Bruxelles) sowie aus vier Mitgliedern des Lenkungsausschusses von AEFA-Frankreich.
Die Themen des Studienbesuchs waren die Empfehlung “Upskilling Pathways - Weiterbildungspfade“ (Kompetenzaufbau-Parcours), die Zertifizierung von Kompetenzen und die italienische Politik im Bereich der Erwachsenenbildung. Ziel war es, die transnationale Zusammenarbeit zwischen den Koordinatoren der Europäischen Agenda für Erwachsenenbildung zu stärken.
Die vier Mitglieder der französischen Delegation schlagen in diesem Artikel vor, ihre Erfahrungen und Sichtweisen auf die Ausbildungssysteme und die Umsetzung des Parcours zur Stärkung der Kompetenzen zwischen Italien und Frankreich zu teilen.
Vorstellung des Instituto nazionale per l'analisi delle politiche pubbliche (INAPP): Italienische Einrichtung mit vielfältigen Aufgaben, das auf die Förderung und Umsetzung der öffentlichen Politiken im Bereich Lebenslanges Lernen ausgerichtet ist.
Aline Bomba, Verantwortliche für Projekte mit gesellschaftlichen Herausforderungen in der Generaldirektion der OPCO für sozialen Zusammenhalt Uniformation, beschreibt die Aufgaben des INAPP, das uns während des Studienbesuchs aufnahm.
„Das 1973 gegründete INAPP ist eine nationale öffentliche Einrichtung, die dem italienischen Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik untersteht. Seine Aufgaben sind Studien, Forschung, Überwachung und Bewertung der öffentlichen Politik in den Bereichen Beschäftigung, Integration / Eingliederung in den Arbeitsmarkt, Sozialschutz und Lebenslanges Lernen.
Das INAPP nimmt darüber hinaus aus Aufgaben auf europäischer und internationaler Ebene wahr, z. B. als nationale Agentur für das Erasmus+ Berufsbildungsprogramm, als EQAVET-Kontaktstelle und als italienischer Leadpartner für das ReferNet-Projekt von CEDEFOP. Es koordiniert die Umsetzung der Europäischen Agenda für Erwachsenenbildung und beteiligt sich an den OECD-PIAAC-Evaluierungen.
Das Institut hat insgesamt 400 Mitarbeiter und seine Aufgaben sind denen von französischen Institutionen wie DARES, DRESS, Céreq, den Observatorien der Berufszweige und Carif Oref recht ähnlich.
Was bei diesen Treffen deutlich wurde, ist die Vielfalt und Komplementarität der vom INAPP durchgeführten Maßnahmen sowie das Engagement der Forschungsteams bei der Analyse der Entwicklungen und Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und der Kompetenzen, wobei ein klares Verständnis der Realitäten und der großen regionalen Unterschiede angestrebt wird.
In Anbetracht der verschiedenen INAPP-Präsentationen können wir feststellen, dass Italien trotz der Veröffentlichung gesetzlicher Maßnahmen zur Förderung von Lebenslangem Lernen in der öffentlichen Politik mit einer Verzögerung von mehr als 30 Jahre nach Frankreich inzwischen seinen Rückstand aufholen und sich mit den nötigen Instrumenten ausstatten konnte, um über die für die Umsetzung der öffentlichen Politik erforderlichen Daten zu verfügen.
Wie in Frankreich sind die Beschäftigungsprobleme recht ähnlich: hohe Jugend- und Seniorenarbeitslosigkeit, regionale Unterschiede beim Zugang zu Beschäftigung und Ausbildung, hohe Analphabeten- und Illettrismusrate, Wandel von Berufsbildern und Kompetenzen, Herausforderungen des ökologischen Wandels. All diese Problematiken stehen im Mittelpunkt der strategischen Achsen der öffentlichen Beschäftigungs- und Sozialpolitiken des italienischen Staats. “
Weiterbildung: Unterschiedliche Ansätze und Zeitpläne in Frankreich und Italien.
Joëlle Pochelu, Beraterin für Weiterbildung am GIP Académique de Versailles, schildert ihre Lesart der Weiterbildungsansätze in Frankreich und Italien:
„Berufliche Weiterbildung wurde in Italien in den 1990er Jahren organisiert, später als in Frankreich, wo sie seit 1971 Pflicht ist. Darüber hinaus ist Weiterbildung in Frankreich Teil des lebenslangen Lernens, wobei zu beachten ist, dass Bildung immer ein ideologischer Kampf im Dienste der Gedankenfreiheit, des freien Willens und der Staatsbürgerschaft war. In dieser Hinsicht ist die Weiterbildung wie auch die Schulbildung eine Chance für die Bürger. In Italien scheint es, dass der einzige Zweck einer Ausbildung darin besteht, einen Arbeitsplatz zu erhalten, und weiteres Lernen scheint wenig attraktiv, sobald dieses Ziel erreicht ist.
Im Gegenzug gibt es eine große Ähnlichkeit hinsichtlich der verschiedenen Programme zur beruflichen Weiterbildung. Es gibt solche, die sich auf Grundkompetenzen, Qualifikationen, neue Kompetenzen und das Lernen beziehen.
Bemerkenswert ist auch die Ähnlichkeit der Kontexte und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem funktionalen Analphabetismus und den Lücken zwischen den verfügbaren und den vom Arbeitsmarkt geforderten Kompetenzen. Die Lehrlingsausbildung wird als Hebel zur Überbrückung dieser Lücke gesehen, und Überlegungen zur Innovation und zur Erschließung arbeitsmarktferner Zielgruppen mobilisieren die verschiedenen Fachleute für Eingliederung und Beschäftigung. “
Deutliche Unterschiede gibt es bei der Komponente „auf die Zielgruppen zugehen“, die in Italien weniger ausgeprägt ist. Ein Besuch, der die Arbeitsperspektiven für die kommenden Jahre beleuchtet.
Imène BATTIKH, Projektleiterin für Strategien und öffentliche Politik bei Alliance Ville Emploi:
„Der Studienbesuch bei INAPP ermöglicht es, unsere Herausforderungen vor dem Hintergrund des Europäischen Jahrs der Kompetenzen 2023 zu betrachten.“ Lebenslanges Lernen wird auf strategische und relevante Weise betrachtet, unter dem Motto „vom Strategischen zum Nützlichen“.
Die Arbeit des INAPP ist zentralisiert und mit einem beträchtlichen Budget ausgestattet, was ein genaueres Verständnis der eingesetzten Politiken und der italienischen Vorkehrungen im Vergleich zu Frankreich ermöglicht.
Dennoch war der kollaborative und innovative Aspekt mit Beteiligung von Akteuren außerhalb des Ministeriums (Verbände, Netzwerke usw.) nur schwach ausgeprägt. In Frankreich scheinen die Ansätze, zu den Menschen und mit Akteuren zu gehen und möglichst nah an den Gebieten zu sein, stärker im Vordergrund zu stehen.
Dieser Besuch verdeutlicht insgesamt die Arbeitsperspektiven, die rund um das Lebenslange Lernen zu entfalten sind: Worum geht es? Was sind die Ziele? Welche Akteure sind beteiligt? Welche Arbeiten werden in Angriff genommen? Wer ermittelt formelle und informelle Kompetenzen? Wer verleiht den Kompetenzen rechtliche Gültigkeit? Wer erleichtert es Fachkräften den Zugang zu europäischen Texten (Digitalisierung, ökologischer Wandel usw.)? Welche finanziellen Mittel müssen mobilisiert werden? Sind Experimente und Innovationen möglich?
In Italien erreicht das Bildungsangebot die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen kaum, obwohl das Qualifikationsniveau in Italien auf dem niedrigsten Stand in Europa ist.
Michel JOUINI, Studienbeauftragter für Europa International bei Centre Inffo |
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„Der Studienbesuch bei INAPP hat eines der Probleme aufgezeigt, die auch in Frankreich auftreten, nämlich dass „Ausbildung zu Ausgebildeten kommt“. Mit anderen Worten: Die angebotenen Maßnahmen und Lernangebote kommen überwiegend Erwerbstätigen zugute, die bereits qualifiziert sind und Zugang zu Informationen und Finanzmitteln haben.
In Italien haben 14 Millionen Menschen zwischen 15 und 64 Jahren lediglich einen Abschluss, der EQF 2 (Hauptschulabschluss) entspricht, und sind ohne weitere Qualifikationen. Diese Personen sind die Zielgruppe der Empfehlung „Upskilling Pathways“. Da die Kompetenzen im Bereich Ausbildung an die Regionen dezentralisiert wurden, versuchen diese, auf diese Personen zuzugehen, indem sie ihnen Bildungspläne anbieten, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Außerdem müssen sie gegen das Klischee ankämpfen, dass eine Berufsausbildung mit Misserfolg gleich gesetzt wird, die nur dann gemacht wird, wenn eine Person keine Arbeit finden kann.
Eine der auffälligsten Statistiken stammt aus der PIAAC-Studie der OECD, welche die Kompetenzen von Erwachsenen im Bereich der Informationsverarbeitung (Literalität, Numeralität und Problemlösung) misst. Es zeigt sich, dass die Lese- und Schreibkompetenzen in Norditalien wesentlich besser sind und dass im Süden jeder Dritte Schwierigkeiten hat, Zahlen und Buchstaben richtig zu verwenden. Die Frage, die sich stellt, ist also, was für diese Zielgruppen getan wird, die nicht von den Informationen profitieren und aufgrund fehlender (insbesondere digitaler) Kompetenzen einfach keinen Zugang zu den Angeboten haben.
Eine der Antworten ist das GOL-Programm, das die Kompetenzen einer Person analysiert und ihr dann einen angepassten Ausbildungsweg vorschlägt, der ihre Bedürfnisse mit den Anforderungen von Unternehmen in Einklang bringt, um die anschließende Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern, indem am Ende des Programms eine Zertifizierung vergeben wird.
Die duale Ausbildung mit Ausbildungsvertrag wurde auch für Erwachsene über 29 Jahre entwickelt. Der Auszubildende hat einen Arbeitsvertrag und ist somit abhängig beschäftigt und hat Theorie-Unterricht in einem Erwachsenenbildungszentrum (CPIA). Dieser Ansatz zielt auch darauf ab, weniger qualifizierten Personen die Möglichkeit zu geben, ihre Kompetenzen zu erweitern, indem sie einen angepassten Bildungsweg einschlagen und sich anschließend in den Arbeitsmarkt integrieren.
Man muss nun abwarten und sehen, ob diese Wege es den „unsichtbaren“ Erwachsenen tatsächlich ermöglichen, sich im Arbeitsmarkt einzugliedern und eine Arbeit zu finden, ähnlich wie es in Frankreich mit dem Investitionsplan für Kompetenzen geschehen ist. “
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Abschließend lässt sich sagen, dass die zweitägigen Studienbesuche einen tiefen Einblick in das System des lebenslangen Lernens in Italien sowie in die Hintergründe und die Besonderheiten, die den heutigen Stand der Dinge erklären, ermöglichten.
Es scheint, dass seit den 1990er Jahren in Italien ein kultureller Wandel stattgefunden hat, der die öffentliche Bildungspolitik beeinflusst hat: Das System hat sich vom Recht zu lernen zu dem Recht gewandelt, zu verlangen, dass bereits erworbene Kompetenzen von allen anerkannt werden. Allerdings muss Italien die Strukturierung des Systems durch Schaffung eines einheitlichen Bezugsrahmens, der 2023 noch nicht existiert, noch weiter ausbauen. Auf europäischer Ebene erreichen die Zahlen für NEET-Jugendliche und niedrige Bildungsabschlüsse einen Tiefpunkt. Und abschließend lässt sich sagen, dass die institutionelle Komplexität und die Verwaltung unserem französischen System ähneln, das fragmentiert ist und mit einer großen Vielfalt an Akteuren funktioniert.
Für die französische AEFA-Koordination beginnt mit diesem Besuch ein Zyklus der Zusammenarbeit mit ihren Kollegen aus Belgien und Italien. Die Stärkung der europäischen Dimension der Arbeit der AEFA eröffnet neue Perspektiven im Hinblick auf Erfahrungsaustausch und das Überdenken eigener Praktiken.