Die große Kündigungswelle? Wirklich?

[Übersetzung : EPALE Frankreich]
Keine Nachrichtensendung, die nicht darauf Bezug nimmt! Keine Wochenzeitung, die nicht einen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht! So hören wir zahlreiche Berichte von Personen, die „lieber nicht arbeiten, als am Arbeitsplatz zu leiden“. Ein Versuch der Medien, das Sommerloch zu überbrücken? Ist es ein Mediencoup oder eine disruptive Option, um die derzeit herrschende nervenaufreibende Unsicherheit noch zu steigern? Aufzeigen der spürbaren Ängste in der Gesellschaft, die an ihrer Fähigkeit zweifelt, alle Veränderungen zu bewältigen: andauernde Pandemie, Krieg in der Ukraine, internationale Bedrohungen, Auswirkungen der globalen Erwärmung auf unser Leben, Inflation, die das tägliche Leben jedes Einzelnen beeinflusst. Bei genauerem Hinsehen kann man natürlich an einer weltweiten Konvergenz zweifeln: Denn was haben die Arbeitnehmer in den USA, die ihre Kündigung filmen und in sozialen Netzwerken posten, mit den jungen Ingenieuren gemeinsam, die sich bei der Übergabe ihres Diploms dafür entscheiden, lieber einen anderen Weg einzuschlagen, als einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, die den Klimawandel verstärkt und soziale Ungerechtigkeiten ausweitet. Dennoch wirft die Vielzahl der Zeichen, die in diese Richtung gehen, Fragen auf.
Ein Zeichen sind die Schwierigkeiten bei der Einstellung
Die Schwierigkeiten bei der Einstellung von Arbeitskräften nehmen in allen Berufsfeldern zu. Die letzte BMO-Erhebung, die von Pôle Emploi im April 2022 veröffentlicht wurde[1] bestätigt, dass die Einstellungschancen in Frankreich erheblich steigen werden (+12 %), aber auch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass diese Einstellungen schwierig sein werden, ebenfalls sehr hoch ist (58 % der Unternehmen glauben dies). Paradoxerweise finden sich für eine Reihe von Wirtschaftstätigkeiten, die für das Wachstum (und seine Probleme) unerlässlich sind, nicht mehr so leicht Arbeitnehmer. Es wird deutlich, dass alle Behauptungen und Daten mit Vorsicht zu genießen sind. In einer aktuellen Veröffentlichung von DARES heißt es : „Derzeit ist die Zahl der Kündigungen also hoch, ohne dass dies ein Novum oder angesichts des wirtschaftlichen Umfelds unerwartet wäre. Diese Entwicklung spiegelt die Dynamik des Arbeitsmarkts und eine Situation wider, in der sich die Verhandlungsmacht zugunsten der Arbeitnehmer verschiebt.“
Dennoch stellen sich einige Fragen: Was sind die gemeinsamen Nenner dieser Phänomene und was sagen sie uns über das Verhältnis jedes Einzelnen zur Zukunft, zur Arbeit und zur Karriere? Welche Entwicklungen sind erkennbar und welche Folgen hat dieses Phänomen sowohl unmittelbar als auch längerfristig? Wie kann die öffentliche Beschäftigungs- und Bildungspolitik diese Entwicklungen im Hinblick auf die Eingliederung berücksichtigen?
Welche Transformationen finden statt?
In einer Stellungnahme des EWSA (Conseil Économique social et Environnemental) zum Thema „ Angespannte Berufsfelder“ vom Januar 2002 heißt es in der Einleitung: „Die Pandemie hat neue Faktoren hervorgebracht, die die Anspannung auf dem Arbeitsmarkt́ verstärken. Die Suche nach Sinn und Zwecḱ der Arbeit, das Streben vieler Erwerbstätiger nach besserer Vereinbarkeit von Privat- und Familienleben und dem Engagement in Vereinen, was sich bereits̀ vor der Gesundheitskrise äußerte.“
Wie ein Echo dieser Äußerungen steht die Frage nach dem Sinn der Arbeit, symbolisiert durch das polemische Buch des verstorbenen David Graeber und die von ihm so genannten Bullshit-Jobs, dies ist nicht länger nur eine Frage des wohlhabenden Teils der Bevölkerung, die es sich leisten können, ihre Arbeit zu hinterfragen. Sie durchdringt alle Generationen, alle sozialen und kulturellen Ebenen. Provokativ spricht das Buch von Arbeitnehmern, „die dazu gebracht werden, ihr Leben sinnlosen und uninteressanten Aufgaben zu widmen, während sie sich der Oberflächlichkeit ihres Beitrags zur Gesellschaft voll bewusst sind.“Man kann über diese Verallgemeinerung, über diese radikale Position diskutieren, aber der gemeinsame Nenner scheint der Stellenwert der Arbeit zu sein, die Art und Weise, wie jeder sie betrachtet, ihr Inhalt, die mit ihr verbundenen Lebensbedingungen, aber auch, und das wird heute stärker deutlich, wie sie zur Gesellschaft beiträgt (und nicht nur, wie sie persönlichen Erfolg und Selbstverwirklichung ermöglicht). Auch hier ist Vorsicht geboten. Die heutige Unberechenbarkeit kann diesen Zustand insbesondere in Situationen großer Unsicherheit sehr schnell umkehren. Der Trend zeigt sich allerdings in ganz Europa.
Die große Kündigungswelle: ein Prozess der allmählichen „Desertation“?
Schwierigkeiten bei der Einstellung von Personal sind nicht die einzigen Anzeichen. Seit einigen Monaten haben viele Bildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen Schwierigkeiten, ihre Zielgruppen zu erreichen. Dennoch gibt es zahlreiche Angebote, die qualitativ hochwertig und oftmals relevant sind, wenn es darum geht, den Zugang zur Beschäftigung zu erleichtern. Es ist also etwas anderes passiert. Diese „Desertation“ hängt weder allein mit den mobilisierten Mitteln noch mit der Qualität und Relevanz des Angebots zusammen. All diese Elemente betreffen die Öffentlichkeit im Allgemeinen. Für die in diesem Bereich tätigen Fachleute bedeutet dies, dass sie genau verstehen müssen, was als zufällige und aktuelle Faktoren am Werk ist, aber auch, dass sie diese Faktoren in einen viel älteren und fortschreitenden Prozess der Loslösung, des Vertrauensverlusts, der zur Nichtinanspruchnahme von Rechten führt, integrieren müssen. Seit mehreren Jahren gibt es zahlreiche Initiativen, insbesondere im Rahmen der spezifischen Maßnahmen, die überall in Frankreich im Rahmen des Programms zur Investition in Kompetenzen initiiert wurden. Das Thema umfasst Fragen der Integration, die sich nicht allein auf die Aspekte Beschäftigung und Ausbildung reduzieren lassen.
Eine Neuausrichtung des Machtverhältnisses? Neue Form der Anbahnung von Transaktionen
Es ist auch so, dass die angespannte Beschäftigungssituation die Machtverhältnisse verändert. Historisch gesehen erfolgte der Zugang zu vielen Programmen immer über eine Auswahl, bei der die Kriterien von den Einrichtungen festgelegt wurden. Diese mehr oder weniger starke Selektivität hat Praktiken und Lesarten der Situation hervorgebracht, in denen die Verantwortung für Überzeugung und Argumentation auf Seiten der Zielgruppe lag, die (manchmal mit Unterstützung) überzeugend sein musste, um eine Chance zu erhalten. Heute verschiebt sich die Verhandlungsmacht zugunsten der Arbeitnehmer, wie aus der DARES-Veröffentlichung hervorgeht. Dies bedeutet auch, dass Einrichtungen und deren Mitarbeiter auf die Menschen zugehen müssen, um ihre Bedürfnisse, Wünsche und Nutzungsweisen besser zu verstehen. Kurz gesagt, eine Transaktion wiederaufzunehmen, bei der das Machtverhältnis ausgeglichen wird und Voraussetzungen und Anforderungen nicht mehr der einzige Filter sind.
Eine Frage der Haltung?
Aber diese neue Form der Anbahnung bedeutet angesichts eines sich entwickelnden und unvorhersehbaren Markts zweifellos mehr, als nur für Branchen zu werben, die Fachkräfte suchen, und es bedeutet auch nicht, den Beruf des Beraters in einen sozialen Influencer zu verwandeln, der versucht, Zielgruppen einzufangen und „in seine Netze zu locken. So betrachtet hat die Strategie wenig Chancen, Erfolg zu haben. Aber es bedeutet auch, nicht mehr davon auszugehen, dass der einzige Handlungshebel die „Entwicklung der Attraktivität von Mangelberufen“ ist - ein sehr lächerlicher Hebel, wenn man sich die Vielzahl der Arbeiten über den Aufbau von Berufsvorstellungen und die geringe Wirkung der Adäquanzpraktiken in den letzten Jahrzehnten ansieht.
Diese neuen Formen erfordern zweifellos, den Fokus auf eine Reihe von Punkten und Bedingungen zu verlagern:
- Die Person als Besitzer von Ressourcen wahrzunehmen (und sie nicht mehr nur „durch die Filter“ nicht verhandelbarer Voraussetzungen zu jagen).
- Die Bedeutung neuer Orte und Räume für diese Mediation: Es geht darum, ein günstiges Umfeld zu finden, in dem das Machtverhältnis neu ausbalanciert wird
- Arbeit als ständige Erfahrung der Kompetenzentwicklung zu überdenken, was voraussetzt, dass man sich über die Qualität des Arbeitsumfelds (menschlich, pädagogisch, materiell) und über die Möglichkeiten jedes Einzelnen, sich einzubringen, einig wird.
- Mobilisierung aller Akteure in komplexen territorialen Ökosystemen, in denen die Prioritäten der einen manchmal den Herausforderungen der anderen entgegenstehen.
Alle diese miteinander verbundenen Faktoren kann man nicht länger außer Acht lassen. Es geht nicht darum, endlos dieselben Hebel zu betätigen und dabei immer wieder das Gleiche zu tun: mehr streng regulierte Ausbildungen, mehr Maßnahmen, die sich auf angespannte Berufe konzentrieren, mehr sozialer Druck auf die Arbeitssuchenden, mehr Zwang zu Ergebnissen für Betreuer und Ausbilder! Denn auf diese Weise besteht die Gefahr, dass bestehende Brüche noch weiter verstärkt werden.
Zweifellos geht es darum, kollektiv ein neues Vertrauensverhältnis aufzubauen, das nicht noch mehr Kontrolle hinzufügt, sondern im Gegenteil die Debatte und die Kontroverse wieder aufleben lässt, um zu hören, was jeder zu sagen hat, wie er es erlebt und wo er steht. Nur unter dieser Voraussetzung sind fruchtbare kollektive Abwägungen möglich. Viele Erfahrungen in Frankreich und Europa können uns inspirieren. Wir werden in einem zukünftigen Blog-Artikel darauf zurückkommen.
André Chauvet
https://dares.travail-emploi.gouv.fr/publication/la-france-vit-elle-une-grande-demission
https://statistiques.pole-emploi.org/bmo
https://www.lecese.fr/sites/default/files/pdf/Avis/2022/2022-01_metiers_tension.pdf
http://www.editionslesliensquiliberent.fr/livre-Bullshit_Jobs-578-1-1-0-1.html
https://reporterre.net/Comment-la-desertion-gagne-la-France