Identität der Erwachsenenbildung in Europa aus Sicht von Erasmus+


Erasmus+ fördert die europäische Zusammenarbeit – auch im Bereich der Erwachsenenbildung. Gibt es in anderen Ländern andere Werte?
EPALE im Gespräch mit Claudia Laubenstein und Dr. Christine Bertram, Teamleiterinnen für Erwachsenenbildung in der Nationalen Agentur „Bildung für Europa“ beim BIBB
EPALE: Welche Rolle spielt der Bereich der Erwachsenenbildung bei Erasmus+?

Christine Bertram: Die Erwachsenenbildung ist ein eigenständiger und wichtiger Bereich innerhalb von Erasmus+. Das Ziel ist es, die persönliche, gesellschaftliche und berufliche Entwicklung von Erwachsenen zu fördern. Besonders im Fokus stehen Grundbildung, digitale Kompetenzen, Sprachförderung, soziale Teilhabe und die Inklusion benachteiligter Gruppen. Erasmus+ bietet hier vielfältige Fördermöglichkeiten für Lernreisen, Projekte und Partnerschaften zur europäischen Zusammenarbeit.
Claudia Laubenstein: Budgettechnisch hat die Erwachsenenbildung den kleinsten Anteil im Vergleich zu den „Schwester-Bereichen“ Berufliche Bildung, Schul- und Hochschulbildung und dem Jugendbereich. Unserer Meinung nach bietet die Förderung über Erasmus+ in der Erwachsenenbildung ein grundlegendes Fundament, Bildungsorganisationen die Internationalisierung und Professionalisierung zu ermöglichen. Außerdem ermöglicht es die Förderung, erwachsene Lernende überhaupt im Rahmen des lebenslangen Lernens an Bildung und gesellschaftliche Teilhabe heranzuführen und deren weitere Entwicklung zu ermöglichen. Erwachsenenbildung ist damit ein essenzieller Bestandteil, um die europäischen Werte und die Gesellschaften zu stärken.
EPALE: Welche Besonderheiten gibt es im Vergleich zu anderen Bildungsbereichen?

Claudia Laubenstein: Die Erwachsenenbildung unterscheidet sich dadurch zu anderen Bildungsbereichen, dass sie sehr heterogene Zielgruppen anspricht – vom Geringqualifizierten über Migranten und Migrantinnen bis hin zu älteren Menschen. Im Vergleich zu den formalen Strukturen von Schule, Berufsbildung oder Hochschule ist der Zugang meist niedrigschwelliger und stärker auf informelles oder non-formales Lernen ausgerichtet. Zudem geht es häufig um persönliche Weiterentwicklung, dem Empowerment von Menschen und gesellschaftliche, demokratische Teilhabe und lebenslanges Lernen, weniger um formale Abschlüsse.
Christine Bertram: Studien zur Wirkung von Erasmus+ in der Erwachsenenbildung zeigen auch, dass die Erwachsenenbildung durch ihre flacheren Organisationsstrukturen und die Nähe zu den Lernenden durch eher informelle Angebote, es schafft, schneller auf den gesellschaftlichen Wandel oder auch sich schnell verändernde Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz zu reagieren, als dies in formaleren Strukturen möglich ist. Das ist etwas wirklich Einzigartiges, das die Bedeutung und Notwendigkeit für Erwachsenenbildung und lebenslanges Lernen heraushebt.
EPALE: Welche Veränderungen hat es bei der Stellung und in der Bewertung von Erwachsenenbildung bei Erasmus+ in den letzten Jahren gegeben?
Claudia Laubenstein: Die Erwachsenenbildung hat gerade mit der neuen Programmgeneration zwischen 2021 und 2027 deutlich an Bedeutung gewonnen. Seit Jahren ist es selbstverständlich, dass Studierende, Schülerinnen und Schüler oder auch Azubis mit Erasmus+ ins europäische Ausland zum Lernen und zum Austausch fahren können. Jetzt ist es in der Erwachsenenbildung endlich auch möglich, die Lernenden, also Nutzerinnen und Nutzer von Bildungsangeboten in der Erwachsenenbildung, an einer sogenannten Lernreise teilhaben zu lassen. Diese neue Gewichtung spiegelt sich auch in dem stark gestiegenen Budget für diese Aktivitäten.
Aber auch durch Themen wie Digitalisierung, Grundbildung, Nachhaltigkeit und Inklusion hat die Bedeutung von Bildungsangeboten in der Erwachsenenbildung zugenommen. Es gibt neue Förderformate, die kleine Projekte, Kurzzeitaufenthalte und flexible Lernangebote ermöglichen. Insgesamt wird die Bedeutung der Erwachsenenbildung für den sozialen Zusammenhalt in Europa heute stärker betont als früher.
EPALE: Gefördert werden soll die europäische Zusammenarbeit – wo gelingt und mit welchen Aktivitäten und Projekten gelingt das besonders gut?
Christine Bertram: Das sind vor allem transnationale Kooperationsprojekte, die innovative Lernmethoden oder digitale Tools entwickeln. Zu nennen sind aber auch Job-Shadowings und Weiterbildungen von Personal in Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Hier kann die Vernetzung und Professionalisierung des Personals und Stärkung der Organisationsentwicklung direkt gefördert werden.
Auch Blended Learning-Angebote und Partnerschaften, die sich mit gesellschaftlichen Themen wie Integration, Nachhaltigkeit oder Demokratiebildung befassen, zeigen großen Mehrwert für die europäische Zusammenarbeit.
EPALE: Gibt es unterschiedliche Werte in der Erwachsenenbildung der europäischen Länder?
Claudia Laubenstein: Ja, es zeigen sich durchaus unterschiedliche Schwerpunkte und Werte. In den nordischen Ländern steht oft Bürgerbildung und Demokratieerziehung im Mittelpunkt, während südeuropäische Länder stärker soziale Integration und Bekämpfung von Bildungsarmut betonen. In Osteuropa liegt häufig ein Fokus auf Qualifizierung für den Arbeitsmarkt. Diese Vielfalt an Ansätzen ist ein Gewinn für die teilnehmenden Organisationen und Lernenden, erfordert aber auch Offenheit und interkulturelles Verständnis.
EPALE: Wo steht Deutschland bei der Erwachsenenbildung im europäischen Vergleich? Welche Länder sind uns voraus und welche Anregungen könnten wir übernehmen?
Christine Bertram: Deutschland hat ein gut entwickeltes Weiterbildungssystem, vor allem im Bereich der beruflichen Weiterbildung. Im Bereich der niedrigschwelligen Erwachsenenbildung könnten aber Anregungen aus Finnland oder den Niederlanden übernommen werden, wo etwa Community Learning und Lerncafés stärker verbreitet sind. Ein beeindruckendes Beispiel für einen neuartigen Lernort ist die Central Library Oodi in Helsinki.
Claudia Laubenstein: Ich kann ergänzen, dass auch die systematische Einbindung von Erwachsenenbildung in gesellschaftliche Transformationsprozesse – etwa beim Stichwort Twin Transition in Deutschland weiter ausgebaut werden könnte. Skandinavische Länder sind hier oft Vorreiter, wenn es um die Verknüpfung von Bildung und demokratischer Teilhabe geht.
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Fotos Bertram und Laubenstein: BIBB