„Integration ist jetzt und vor Ort“

Ein Pilotprojekt im bayrischen Landkreis Ostallgäu zieht Bilanz
Zu den aktuell größten Herausforderungen des Bildungssystems gehört die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Schulen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, denn sie bilden oft die erste Brücke zur Gesellschaft des Aufnahmelandes. In Deutschland wurden inzwischen zahlreiche Willkommens- und Integrationsklassen eingerichtet, in denen Lehrer/innen, Schulpsycholog/inn/en und Sozialpädagog/inn/en die zugewanderten Schüler/innen gemeinsam auf die Sprache und das Lernen in Deutschland vorbereiten.
Als erstes Bundesland in Deutschland hat Bayern auch an Berufsschulen Integrationsklassen eingeführt. An der Staatlichen Berufsschule Ostallgäu startete im Schuljahr 2016/2017 das Pilotprojekt „ProfilPASS für junge Flüchtlinge und Asylbewerber“: Ein Schuljahr lang haben sich 40 geflüchtete junge Menschen im Alter von 17 bis 21 Jahren auf ihren Weg in Ausbildung und Beruf vorbereitet. Neben der Kompetenzermittlung mit dem ProfilPASS erprobten sich die Jugendlichen in verschiedenen Praktikumsfeldern.
Katrin Hülsmann sprach mit Tanja Hiemer über das Pilotprojekt.

Julia Grimm und Tanja Hiemer (v.l.), Bildungskoordinatorinnen für Neuzugewanderte im Landkreis Ostallgäu. (Bild: © Landratsamt Ostallgäu)
Katrin Hülsmann: Frau Hiemer, Sie und Ihre Kollegin Julia Grimm sind seit Sommer 2016 Bildungskoordinatorinnen für Neuzugewanderte im Landkreis Ostallgäu. Sie vernetzen verschiedene Bildungsangebote für Neuzugewanderte. Frau Grimm und Sie sind auch Mitinitiatorinnen des ProfilPASS-Projekts. Welches Ziel verfolgt das Projekt „ProfilPASS für junge Flüchtlinge und Asylbewerber“?
Tanja Hiemer: Das Projekt verfolgt in erster Linie das gleiche Ziel, das auch der ProfilPASS für junge Menschen allgemein verfolgt, nämlich die persönlichen Stärken und Interessen der Jugendlichen zu ermitteln und dabei auch alle ihre relevanten Lebensbereiche zu berücksichtigen. Der Fokus wird dabei insbesondere auf das informelle Lernen gelegt: Neben der Schule spielen andere Ort des Lernens eine wichtige Rolle, gerade auch bei dieser Zielgruppe. Wir wollen die Jugendlichen befähigen, ihr eigenes Tun zu reflektieren, sich mit ihren persönlichen Kompetenzen und Interessen zu identifizieren und dadurch natürlich ihr Selbstbewusstsein und ihre Motivation stärken. Wir haben es in unserem Projekt ja mit Jugendlichen mit Fluchthintergrund zu tun, das heißt, die Wenigsten sind mit formellen Qualifizierungsnachweisen nach Deutschland gekommen. Und deswegen spielt es natürlich eine wichtige Rolle, die Jugendlichen von einer anderen Perspektive aus kennenzulernen.
KH: Wie sind Sie auf die Idee für dieses Projekt gekommen? Gab es einen bestimmten Anlass? Was war die Initialzündung für das Projekt?
TH: Der Ausgangspunkt war meine berufliche Tätigkeit vor meiner koordinierenden Arbeit hier im Landratsamt Ostallgäu. Als sozialpädagogische Betreuungskraft habe ich fast zwei Jahre lang Jugendliche in Berufsintegrationsklassen begleitet. In dieser Zeit habe ich festgestellt, dass die zweijährige Beschulung eine sehr kurze Zeit ist, um die Jugendlichen kennenzulernen. Herauszufinden, welche Stärken und Interessen die Jugendlichen haben, wo sie schulisch stehen und wie sie bestmöglich bei der beruflichen Orientierung unterstützt werden können, braucht Zeit. Im zweiten und letzten Schuljahr liegt der Schwerpunkt auf dem Thema Berufsorientierung. Für Jugendliche mit Fluchthintergrund ist es natürlich eine große Herausforderung, sich gleichzeitig mit unserem schulischen und beruflichen System vertraut zu machen, insbesondere im Hinblick auf die duale Ausbildung. In dieser Zeit habe ich festgestellt, dass mir Zeit fehlt, die Jugendlichen kennenzulernen und einzuschätzen, in welche Richtung die berufliche Orientierung gehen kann. In meiner anschließenden Tätigkeit im Landkreisamt bin ich auf den ProfilPASS aufmerksam geworden. Indem der ProfilPASS die Stärken und Interessen der Jugendlichen fokussiert, unterscheidet er sich von den gängigen Testverfahren, die computer- oder sehr sprachlich ausgerichtet sind. Der ProfilPASS ist für mich eine gute Alternative und bietet etwas, was an der Schule bisher fehlte. Und dann kam eins zum anderen. In Gesprächen mit der Schulleitung und mit den Lehrkräften wurde der ProfilPASS vorgestellt und stieß auf sehr viel Zuspruch: Das war der Startschuss für die Projektgründung.
KH: Welche weiteren Schritte sind Sie gegangen, um das Projekt umzusetzen? Was war förderlich und was war gegebenenfalls auch schwierig?
TH: Der Vorteil im Landkreis Ostallgäu ist, dass der ProfilPASS für Erwachsene bereits bei uns sehr etabliert ist. Durch meinen Kollegen, der in der Bildungsberatung aktiv ist, setzen wir den ProfilPASS an unterschiedlichen Stellen bereits ein. Wir verfügen über einen Trainerpool und bieten verschiedene Kursreihen an. Neben den Trainern hatten wir mit der Staatlichen Berufsschule Ostallgäu eine Schule, die sehr offen dafür war, einen neuen Weg zu gehen.
Durch meine vorherige Tätigkeit bestand sowieso ein enger Kontakt zu der Berufsschule. Sehr günstig war, dass die Schule Kapazitäten hatte, die ProfilPASS-Beratung direkt als Regelangebot in das gesamte Schuljahr zu integrieren und dazu die Möglichkeit, das Projekt über Drittmittel zu finanzieren. Seitens des Landkreisamtes haben wir die Projektleitung übernommen und den Jugendlichen die Materialien zur Verfügung gestellt. So konnten wir relativ schnell zum Schuljahresbeginn mit dem Projekt beginnen.

Die ProfilPASS-Beraterin Verena Kiupel während der Beratung. (Bild: © Landratsamt Ostallgäu)
KH: Welche finanzielle Förderung hat die Schule konkret in Anspruch genommen?
TH: In Bayern gibt es zurzeit spezielle Fördertöpfe, die zur Finanzierung von Drittkräften bei der Unterstützung geflüchteter Menschen genutzt werden können. Gefördert werden Sprachangebote, aber auch sogenannte „individuelle Projekte“, die zur beruflichen und schulischen Integration beitragen. Um die ProfilPASS-Beratung finanzieren zu können, hat die Berufsschule Ostallgäu bei der Regierung einen Antrag für ein individuelles Projekt gestellt. Der Antrag enthielt Angaben zur Qualifikation der Drittkraft und zum gesamten Stundenumfang des Projekts. Nach Antragsbewilligung konnte unsere ProfilPASS-Trainerin Verena Kiupel schließlich für die Laufzeit des Projekts bei der Regierung angestellt werden.
KH: Welche Auswirkungen hat Ihr Pilotprojekt gehabt? Wie geht es konkret im Landkreis Ostallgäu weiter?
TH: Das Projekt hat über unseren Landkreis, aber auch über Bayern hinaus sehr große Kreise gezogen. Wir erhalten viele Nachfragen. Aktuell weiß ich von einer weiteren Kommune, die seit diesem Schuljahr ein Projekt nach unserem Modell initiiert hat. Aufgrund der sehr positiven Resonanz von allen Seiten haben wir gemerkt, dass dieses Projekt genau den Nerv der Zeit trifft. In dieser Form gibt es bisher noch keine Instrumente für diese Zielgruppe. Auch der ProfilPASS musste natürlich etwas an die Zielgruppe angepasst werden. Bezogen auf die Berufsschule Ostallgäu freuen wir uns, dass wir das Projekt in diesem Schuljahr fortführen und sogar auf fünf Klassen ausweiten konnten.
KH: Können Sie einschätzen, welchen Nutzen das Projekt für Unternehmen im Ostallgäu hat? Hat es schon Vermittlungen in Ausbildung gegeben?
TH: Es gibt immer mehrere Faktoren, die zusammenkommen müssen, damit ein Jugendlicher zu seinem Ausbildungsplatz kommt. Neben der ProfilPASS-Beratung wurden die Jugendlichen auch von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen bei der Suche nach Praktikumsplätzen unterstützt. Indem sie die schulischen Kompetenzen der Jugendlichen fördern, leisten auch die Lehrkräfte einen bedeutenden Beitrag zur beruflichen Orientierung. Um herauszufinden, was ein realistischer Weg für einen Jugendlichen sein kann, ist der Austausch aller Akteure, die mit den Jugendlichen arbeiten, ganz zentral.
KH: Welche Hinweise würden Sie Menschen geben, die sich wie Sie auf den Weg machen und Angebote zur Integration auf den Weg bringen wollen?
TH: Einfach machen - das war auch unsere Intention. Wir haben einfach gesehen, hier ist jetzt ein Bedarf, wir haben ein Instrument, das in etwa passen könnte, jetzt probieren wir es einfach aus. Es kann nicht viel schief gehen, da jede Aktivität in irgendeiner Weise der Zielgruppe zugutekommt. Dieses Feld ist sehr schnelllebig, es gibt viele Akteure und Angebote. Man kann eigentlich nur punkten, wenn man relativ schnell in die Praxis geht und es ausprobiert.
Alles andere dauert zu lang: zunächst mal Konzept erarbeiten und lange Vorlaufwege in Kauf nehmen. Einfach aktiv werden, das habe ich jetzt selber für mich als Person auch gelernt. Man kann nicht immer alles im Vorfeld abstimmen und Eventualitäten betrachten. Das ergibt sich aus dem Projekt raus in dem Feld. Und wir müssen schnell sein. Integration ist jetzt und beginnt vor Ort.
Kontakt:
Bildungskoordination Neuzugewanderte
Tanja Hiemer und Julia Grimm
Schwabenstr. 11
87616 Marktoberdorf
Tel. 08342 911-185
Das Projekt "Bildungskoordination für Neuzugewanderte" wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Informationen zum Projekt auf den Seiten des Landkreises Ostallgäu.
Informationen zum ProfilPASS: Websites zum ProfilPASS, zum ProfilPASS für junge Menschen und zum internationalen ProfilPASS.
Katrin Hülsmann arbeitet beim Deutschen Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V. (DIE). Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Servicestelle ProfilPASS ist sie seit 2012 für die Koordination der ProfilPASS-Akteure, die Verbreitung sowie für die Weiterentwicklung des ProfilPASS-Systems verantwortlich. Zu den aktuellen Arbeitsschwerpunkten gehören die Anpassung des ProfilPASS für spezifische Adressatengruppen und die Sicherung der Qualität in der ProfilPASS-Beratung.