Literalität und Zweitsprachenlernen in der Basisbildung

Literalität und Zweitsprachenlernen in der Basisbildung
Ein Erasmus+ Projekt zur Unterstützung von Trainer*innen in der Grund-/Basisbildung
Sprachlernanlässe im Alltag
Ein Straßenschild, der Busfahrplan an der Haltestelle, eine Nudelverpackung, oder der Waschmittelkarton – wer würde daran denken, dass diese Dinge, die so jeder Person im Alltag begegnen könnten, auch wunderbare Sprachlernanlässe bieten? Doch eben diese Schriftstücke kamen neben vielen weiteren im Pilotierungskurs in Wien zum Einsatz, der 2023 bis 2024 im Lernzentrum des Vereins Orient Express im Rahmen eines Erasmus+ Projekts „How to learn a language“ stattfand. Im Projekt, welches mit H2L2 abgekürzt wird, wurden Lernstrategien entwickelt, die in der Basisbildung zur Förderung des selbstständigen Lernens dienen sollen. Konkret handelt es sich bei der Zielgruppe um Lernende mir Bildungsbenachteiligung, die im Englischen als „LESSLA learners“ bezeichnet werden. LESSLA steht für Literacy Education and Second Language Learning for Adults und wurde 2005 ins Leben gerufen. Die Initiative soll die Bedürfnisse von Zweitsprachenlernenden zu erkennen, die keine oder nur geringe formelle Bildung in ihrer Erstsprache erhalten haben.[1]
Das Privileg des Lernens
Es gibt zahlreiche Sprachlernapps, Kurse, Programme, Bücher, und Tipps, die häufig suggerieren, dass es doch so einfach sei, eine neue Sprache „wie im Schlaf“ oder „in nur drei Wochen“ zu lernen. Wie fern von der Realität ist dies aber für viele, vor allem für jene, die geringe digitale Kenntnisse haben, die keine Zeit oder keinen deklarierten Raum zum Lernen haben und die aus verschiedensten Gründen Lernbenachteiligungen erfahren? In vielen Angeboten zum Erlernen einer Zweitsprache wird vorausgesetzt, dass formale Grund-/Basisbildung bereits erlangt ist. So ist angenommen, dass die potenziellen Lernenden, zumindest in ihrer Erstsprache, Lesen und Schreiben können, dass sie ein digitales Gerät bedienen können und sich dieses zum Lernen zu eigen machen können und, dass sie einerseits Zeit, weiters Raum und zusätzlich die ökonomischen Mittel haben, um eine Zweitsprache zu lernen. Für sehr viele Lernende ist all dies jedoch nicht der Fall. Dazu können beispielsweise Angehörige benachteiligter Gruppen gehören, an die oft strengere Maßstäbe angelegt werden, wie etwa Frauen mit Migrationsgeschichte, von denen der schnelle Zweitspracherwerb für eine erfolgreiche Integration erwartet wird.
In Österreich gibt es ein Basisbildungsangebot, dass sich unter anderem an diese Zielgruppe wendet. Monika Kastner, Lehrende an der Universität Klagenfurt im Bereich Erwachsenenbildung und berufliche Bildung, empfiehlt, diese Zielgruppe unter der Bezeichnung „bildungsbenachteiligte Erwachsene mit Basisbildungsbedarfen/-bedürfnissen“ zusammenzufassen. Mit Benachteiligung wird hier auf „behindernde und verhindernde Strukturen und Mechanismen“ hingewiesen, die sich negativ auf Bildung und Lernen ausgewirkt haben. [2] Dies trifft auch auf die Gruppe an Lernenden zu, mit der die Lernstrategien, die im Projekt H2L2 entstanden sind, pilotiert wurde. Bei dem durchführenden Basisbildungsanbieter, dem Bildungsbereich des Vereins Orient Express in Wien, sind die Kursteilnehmenden Frauen mit Migrationsbiografie, die höchstens vier Jahre Schuldbildung erfahren haben. Diese sind mehrfach benachteiligt und erfahren Diskriminierung aufgrund verschiedener Ursachen – nicht zuletzt aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Fürsorgetätigkeiten als Mütter, ihrer Gewalt- und Fluchterfahrungen und eventueller körperlicher oder kognitiver Einschränkungen.
Lernen auf Augenhöhe
In der Arbeit mit erwachsenen Lernenden - auch jenen mit Bildungsbenachteiligungen - kann davon ausgegangen werden, dass individuelle Strategien bereits vorhanden sind. Prämisse der Arbeit mit bildungsbenachteiligten Erwachsenen ist die Wertschätzung gegenüber der lernenden Person, aber auch derer Alltagssituationen. Welchen Schwierigkeiten sehen sich die Lernenden im Alltag gegenüber, mit welchen Hürden haben sie zu kämpfen, was könnte sie am Lernen hindern und welche Strategien haben sie bereits selbst entwickelt, um sich neue Fähigkeiten anzueignen? Fragen wie diese gilt es als Unterrichtende zu bedenken.
Zum Lernen braucht es Selbstvertrauen und Sicherheit. Diese können gefördert werden, wenn die Lerninhalte einerseits Bezug zum Alltag der Lernenden haben, und darüber hinaus von ihnen selbst in den Kurs miteingebracht werden konnten. Dies war unter anderem auch richtungsgebend in den Pilotkursen, die für das H2L2 Projekt bei Orient Express abgehalten wurden. Wie bereits erwähnt, haben die Lernerinnen dort oft Flucht, Gewalt oder Traumata erlebt und erfahren verschiedene Formen von Diskriminierungen aufgrund ihrer Herkunft, ökonomischen Situation, ihres Geschlechts, aber auch aufgrund ihrer Bildungsbenachteiligung. Gerade in diesem Kontext ist es so wichtig, die spezifischen Bedingungen, individuellen Bedürfnisse und Lebensumstände sowie die persönlichen Geschichten dieser Lernenden nicht nur anzuerkennen, sondern in den Lernprozess miteinzubeziehen. So können im Verlauf der Kursplanung in der Basisbildung, die „individuelle Entwicklung und Entfaltung sowie Erweiterung von Teilhabe“ bedacht werden.[3]
Sprache - Überall
Die erste Pilotierungsphase des H2L2-Projekts begann im Jänner 2023. Dabei ging es um Gedächtnisstrategien („Memory Strategies“). Obwohl Lernendenzentriertheit immer ein Thema ist, stand dies vor allem in der zweiten Phase ab Herbst 2023 im Fokus. Diesbezüglich wurden die Lernenden ermutigt, von sich selbst zu erzählen („Self Narration“). Diese stellt natürlich eine Schwierigkeit für die Trainer*innen dar, die einerseits versuchen, die Erfahrungen und Bedürfnisse ihrer Kursbesucherinnen zu respektieren, die andererseits aber auch aus Stärkung der eigenen Resilienz eine gewisse Distanz zu persönlichen Geschichten wahren sollten. Die Trainerin, die Gedächtnisstrategien im Kurs testete, beschreibt, dass zunächst im Kurs darüber gesprochen wurde, was das Erinnerungsvermögen beeinflussen kann. Dazu können unter anderem Stress, Sorgen, finanzielle Ängste, Unsicherheit, Gefahr, oder Trauma gehören. In dieser Phase entstand eine Vokabelkartei, Entspannungsübungen wurden abgehalten, ein audiovisuelles Wörterbuch und eine sensorische Bibliothek wurden erstellt, um die Gedächtnisstrategien der Lernerinnen zu stärken. In der dritten Pilotierungsphase Anfang 2024, die unter dem Motto „Sprache ist überall“ stand, kamen die Lernatmosphäre und das Lernumfeld mehr in den Mittelpunkt des Kurses. Es ging also auch darum, in welchen Räumen und zu welcher Zeit, Sprache gelernt werden kann. Hier wurde der Alltagsbezug im Kontext des Sprachenlernens betont. Die Trainerin meint dazu, es sei zunächst eine Sensibilisierung der Lernenden dafür nötig, in welchen alltäglichen Kontexten die Zweitsprache vorkommt und wie dies als Lernanlass genutzt werden kann. Die Lernerinnen wurden dahingehend ermutigt, Sprache im Alltag zu erkennen und diesbezügliche Objekte mit in den Kurs zu bringen, um auch im Plenum davon zu lernen. Daraufhin brachten die Lernenden Nudelpackungen, Waschmittel oder auch Antragsformulare mit, die gemeinsam besprochen wurden. In dieser Pilotierung entstand ein Memoryspiel aus Bildern von Objekten, das auch digital bearbeitet wurde.
Ausblick: Was ist Literalität?
Wie Hanna Svensson in ihrer Analyse von LESSLA-Lernerinnen mit Migrationsbiografie in Schweden und Neuseeland zusammenfasst, ist es vonnöten, die Bedürfnisse und individuellen Ziele und Identitäten dieser Frauen zu verstehen. Um funktionale Literalität und Kommunikation in der Zweitsprache zu erreichen, benötige es Zeit und Mühen, die für Frauen und oft auch Mütter, schwierig zu erübrigen seien, was wiederum den Zugang zu Bildung erneut erschwere.[4]
Wissenschaftler*innen, die sich mit Bildungsbenachteiligung auseinandersetzen, weisen außerdem darauf hin, dass Alphabetisierung sehr auf Schriftlichkeit ausgerichtet ist und laden dazu ein, andere Arten der Literalisierung stärker anzuerkennen. Dabei kommt der Begriff der „multiliteracies“ (Deutsch: Multiliteralität) auf, der beschreibt, dass Literalität eben nicht nur das Erkennen und Entschlüsseln von schriftlichen Texten bedeutet, sondern vielfältigere Verständnisweisen von Sprache beinhaltet.[5] Interessant ist dazu auch die Arbeit Bryan Streets, der verschiedene Modelle von Literalität beschreibt. Das autonome Modell, dem viele Disziplinen folgten, so Street, verstehe Literalität als autonom auf gesellschaftliche und kognitive einwirkende Kraft. Das ideologische Modell hingegen verstehe Literalität selbst als soziale Praxis und sei damit mehr als eine technische Fähigkeit, die man erwerben oder weitergeben könne.[6] Damit bringt er auch den Punkt auf, dass der Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden bereits eine soziale Praxis ist, die die Art der Literalität beeinflusst, die vermittelt werden soll. Seiner Meinung nach sind die in diesem Prozess inhärenten Machtverhältnisse Teil dieser sozialen Praxis. Demnach sei es nicht akzeptabel, davon auszugehen, dass Literalität neutral “gegeben” werden kann.[7]
Antje Pabst und Christine Zeuner meinen:
“Menschen wenden sowohl literale als auch numerale Praktiken in unterschiedlichsten Alltagssituationen sowie in beruflichen Bezügen bedarfsgemäß an und verfolgen dabei subjektiv begründet, angemessene und teilweise kreative Strategien.“[8]
In Bezug auf Literalität und Basisbildung ist dies dahingehend relevant, da auch eigens im Alltag entwickelte Strategien des Zweitsprachenlernens als soziale Praktiken der Literalität verstanden werden können.
Das Projekt und Tipps für Trainer*innen in der Erwachsenenbildung
Im Projekt H2L2 sind Videos für Lernende in den folgenden Sprachen entstanden: Arabisch, Bengali, Englisch, Farsi/Dari, Paschto, Somali, Tigrinya und Türkisch. Darüber hinaus definierte das Projektkonsortium verschiedene Lernstrategien, die benannten Lernenden helfen sollen. So z. B. das Erzählen der Lebensgeschichte, Kunst, Gedächtnisstrategien, das Festlegen von Lernzielen, den Alltagsbezug von Sprache zu erkennen, digitale Werkzeuge und Portfolioarbeiten. Neben Tipps und Blogeinträgen zu den Strategien, finden Trainer*innen und Sprachassistent*innen auf der Webseite auch eine Anleitung zum Download, wie sie beim Lernen unterstützen können. Mehr dazu hier: https://how2learnl2.eu
Die Projektpartnerschaft besteht aus der Second Chance School of Mytilene in Griechenland, dem Verein Orient Express in Österreich, C.P.I.A. Sede di Ancona/Universita Degli Studi Di Macerata in Italien, Top Taal NT2 Experts, Kaatje Dalderop und ITTA UvA in den Niederlanden.
[1] Mehr Informationen zu LESSLA: https://www.leslla.org/our-vision-and-mission.
[2] Monika Kastner, Alphabetisierung und Basisbildung für Erwachsene (2026), Dossier erwachsenenbildugn.at; https://www.pedocs.de/volltexte/2017/14961/pdf/Dossier_2016_Kastner.pdf, S. 3.
[3] Kastner (2016), S. 3f.
[4] Svensson (2024), Language Learning, gender, and education, p. 9.
[5] Siehe dazu: Hanna Svensson, Language Learning, gender, and education: understanding the agency and affordances of refugee-background women with emergent literacy, Linguistics and Education 81 (2024); https://doi.org/10.1016/j.linged.2024.101309).;
New London Group, A pedagogy of multiliteracies: Designing social futures
Cazden, Courtney; Cope, Bill; Fairclough, Norman; Gee, Jim; et al Harvard Educational Review; (Spring 1996); 66, 1; Research Library pg. 60.
[6] Brian Street, What's "new" in New Literacy Studies? Critical approaches to literacy in theory and practice, Current Issues in Comparative Education, (2003) 5(2), 77 – 91, S. 77.
[7] Street (2003), S.78.
[8] Antje Pabst; Christine Zeuner, Betrachtungen zu Literalität und Numeralität als soziale Praxis - In: Grotlüschen, Anke [Hrsg.]: Alphabetisierung und Grundbildung von Erwachsenen. 1. Auflage. Weinheim; Basel : Beltz Juventa (2021), S. 68-87; https://doi.org/10.25656/01:28834, S. 83.