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Kritische Medienkompetenz - von Konzepten zur Praxis

Unsere Gesellschaften unterliegen nicht erst seit der Jahrtausendwende einem Wandel, der stark von der Veränderung der Medien getrieben ist.

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Helmut Peissl
Helmut Peissl EPALE Konferenz Mai 2023 .

EPALE Konferenz 14. Juni 2023 © OeAD/APA-Fotoservice/Hörmandinger

Unsere Gesellschaften unterliegen nicht erst seit der Jahrtausendwende einem Wandel, der stark von der Veränderung der Medien getrieben ist. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit erfolgt zunehmend medienvermittelt. Hier von Medienwandel zu sprechen, greift aber zu kurz, da sich Medien und Gesellschaft in einem wechselseitigen Verhältnis verändern und damit auch grundsätzliche Auswirkungen auf das Funktionieren unserer Demokratien einher gehen. Hilfreich zum Verständnis ist es auf das Konzept der Mediatisierung zurückzugreifen unter dem jene Veränderungen von Kultur und Gesellschaft diskutiert werden, die durch den Medienwandel entstehen oder verstärkt werden. Mediatisierung ist ein historischer Metaprozess, der auch das Zusammenspiel von Globalisierung, Individualisierung, Kommerzialisierung und Digitalisierung greifbar macht. Als frühere Formen der Mediatisierung können die Einführung des Buchdrucks, die Erfindung der Dampfmaschine oder die Elektrifizierung verstanden werden (Krotz 2015).

Die enorme Verbreitung mobiler und konvergenter Endgeräte (z.B. Smartphones, Tablets u.ä.), die Funktionen vormals unterschiedlicher Geräte vereinen und zudem ortsunabhängig und mobil nutzbar machen, hat diese Entwicklung noch wesentlich beschleunigt. Grundlage der Diskussion zur Mediatisierung ist so die Entgrenzung der Medien in mehrfacher Hinsicht: in Bezug auf Zeit, Raum, soziale Beziehungen, permanente und ortsunabhängige Verfügbarkeit, die Zunahme medienbezogener Kommunikationsformen, Konnektivität sowie in Bezug auf eine Veränderung der Wahrnehmung. Medienvermittelte und medienbezogene Kommunikation erzeugt mediatisierte Lebens- und Gesellschaftszusammenhänge. Diese Medienkultur ist damit auch Grundlage für die Herausbildung neuer Gewohnheiten, Normen, Werte und Erwartungen in der Gesellschaft. Karmasin (2016) hält dazu fest, dass die Zunahme der medienvermittelten Formen der Wahrnehmung von Wirklichkeit weitreichende Folgen hat. Wirklichkeit wird zwar nicht völlig beliebig konstruierbar, aber je nach politischen, sozialen und ethischen Standards der Nutzer*innen dehnbar oder elastisch. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Mediatisierung liefert so auch wichtige Grundlagen und Argumente für die Notwendigkeit einer Kritischen Medienkompetenz von Bürger*innen. Im Zusammenhang mit der voranschreitenden Datafizierung und des Einsatzes von künstlicher Intelligenz sprechen Couldry u. Hepp (2023) mittlerweile von tiefgreifender Mediatisierung. Hier geht es vermehrt auch um die Frage, wie im Rahmen dieser voranschreitenden Datafizierung von menschlichem Verhalten – sei es im Sinne kommerzieller Interessen oder staatlicher Überwachbarkeit – zivilgesellschaftliche Prozesse im Sinne von Active Citizenship und Partizipation gestärkt werden können.

Das Erkennen, Analysieren und Reflektieren von individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Digitalisierung und Mediatisierung auf unsere Lebenswelten und das Erkennen von Handlungsmöglichkeiten sind von grundlegender Relevanz für die Bildungsarbeit. Die Vermittlung kritischer Medienkompetenz erfordert daher einen ganzheitlichen, intersektionalen und transdisziplinären Zugang. Es gibt hier aber schon eine ganze Reihe von Konzepten, auf die wir zurückgreifen können.

Konzepte kritischer Medienkompetenz[1]

Im deutschen Sprachraum gilt nach wie vor Dieter Baackes Konzept der handlungsorientierten Medienpädagogik (1997) als zentrale Referenz in der Debatte um Medienkompetenz und Medienbildung. Baacke unterscheidet dabei vier Aspekte: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. Bürger*innen müssen demnach etwa auch über Kenntnisse zur Medienökonomie und zur Medienpolitik verfügen, um aus den je eigenen Bedürfnissen auch den medienpolitischen Diskurs mitgestalten zu können.

Aus dem englischsprachigen Raum sind vor allem das Konzept „Media Education“ von David Buckingham (2019) und „Critical Media Literacy“ von Douglas Kellner und Jeff Share (2019) hervorzuheben. Buckingham betont in seinem Konzept vier kritische Perspektiven, die bei der Vermittlung von Kritischer Medienkompetenz berücksichtigt werden müssen: die Sprache der Medien, die Politik der Repräsentation – etwa, wie Medien behaupten die Wahrheit zu erzählen, realistisch oder authentisch zu sein aber auch welche Personen oder Gruppen Medien einbeziehen oder ausschließen, die Produktionsverhältnisse von Medien sowie die Rolle des Publikums.

Kellner und Share streichen in Ihrem Konzept Critical Media Literacy (CML) heraus, dass Medienverhältnisse immer auch Machtverhältnisse repräsentieren. Der Anspruch kritische Medienkompetenz zu vermitteln wird demnach nur dann eingelöst, wenn sich die Bildungsarbeit auch mit zentralen Aspekten von Benachteiligung wie Class, Race und Gender auseinandersetzt und einen intersektionalen Zugang verfolgt. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung sowie der wachsenden sprachlichen und kulturellen Vielfalt in der Gesellschaft argumentieren sie für ein tiefergehendes soziologisches Verständnis von Literacy als sozialer Praxis. Sie erweitern die Perspektiven von Buckingham noch explizit um die Auseinandersetzung mit der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit – Medieninhalte sind stets sozial geformt und nie objektiv - und um die Frage sozialer und ökologischer Gerechtigkeit.

Hilfreich ist auch der Zugang von Roberto Simanowski (2021), der neben der Vermittlung von Mediennutzungskompetenz explizit auch die Vermittlung von Medienreflexionskompetenz einfordert. Letztere beinhaltet das Verstehen der Funktionsweisen und der kulturstiftenden Funktion von Medien. Es reiche nicht, digitale Medien nutzen zu können, wenn nicht zivilgesellschaftlich darüber diskutiert wird, was diese mit uns als Gesellschaft machen. Simanowski arbeitet in seinen Überlegungen mit eingängigen Metaphern: Mediennutzungskompetenz – alles, was notwendig ist, um unterschiedliche Medien korrekt nutzen zu können – bezeichnet er als "verkehrspolizeiliche Medienbildung". Um aber auch die Wirkung der sich verändernden Medienwelt auf die Gesellschaft analysieren und reflektieren zu können, braucht es auch Medienreflexionskompetenz, die er als "kriminalpolizeiliche Medienbildung" bezeichnet.

Einen Schritt weiter geht die UNESCO (2021) mit ihrem Curriculum zu Media and Information Literacy: Media and information literate citizens: think critically, click wisely! Mit der Forderung nach mehr Medien- und Informationskompetenzen zielt die UNESCO nicht auf einen rein funktionalen Kompetenzerwerb ab. Die UNESCO sieht Medien und Informationskompetenz als grundlegende Voraussetzung für die gesellschaftliche Partizipation und die Sicherung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung in demokratischen, wissensbasierten Gesellschaften (vgl. Grizzle/Singh 2016, S. 29). Das Curriculum liefert eine umfassende Grundlage für die Konzeption von spezifischen Bildungsangeboten zur Vermittlung Kritischer Medienkompetenz. Die zentralen Themen und Perspektiven sind in 14 Modulen zusammengeführt und geht auf unterschiedliche pädagogische Konzepte ein, die in der Vermittlung angewandt werden können. Je nach Bereich, in dem es genutzt werden soll, gibt es Hinweise zur Vertiefung und weiterführende Unterlagen, bis zu Fragen der Bewertung bei Wissensüberprüfungen.

Kritische Medienkompetenz in der Praxis

Während die Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung in den meisten Ländern Europas nur zaghaft passiert (EAO 2016), bieten nicht-kommerzielle Community Medien an vielen Orten niederschwellige Bildungsangebote und vermitteln erfolgreich Medienkompetenz – oft ohne als wichtige Akteure der Erwachsenenbildung erkannt zu werden. In Österreich sind 17 Community Radios und TVs aktiv, in Deutschland gibt es an die 200 Bürgermedien und in Europa weit über 2000 nichtkommerzielle Sender. Die eingesetzten Methoden und Konzepte sind oft Ergebnisse aus Europäischen Projekten oder werden von nationalen Dachorganisationen koordiniert erarbeitet. Gemeinsam ist allen (Weiter-)Bildungsangeboten im Community Medien Sektor, dass Lernende dabei unterstützt werden, Ihre Themen und Anliegen medial artikulieren zu können, wobei ein Fokus auf der Unterstützung bildungsbenachteiligter Gruppen liegt. Die Vermittlung und Aneignung von Medienkompetenz ist hier Teil eines Engagements, das vor allem auf die Stärkung von gesellschaftlicher Teilhabe und Empowerment benachteiligter Communities liegt (Chapman at al. 2020). Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der je eigenen Medienbiographie der Teilnehmenden werden unterschiedliche theoretische und praktische Felder bearbeitet, von den Grundlagen der Medienökonomie, journalistischen Darstellungsformen, rechtlichen und ethischen Aspekten, der Auseinandersetzung mit Desinformation über Sprechen am Mikrofon, Moderation, Interviewführung, Audio-/Video-Schnitt und Sendungskonzeption bis zur Auseinandersetzung mit kollegialer Feedbackkultur. COMMIT stellt dazu eine Vielzahl von Arbeitsunterlagen online zur Verfügung, die auch laufend weiterentwickelt und ergänzt werden[2]. Besonders hinweisen will ich hier auf die deutschsprachige Übersetzung des Analyserahmes zu kritischer Medienkompetenz nach Kellner u. Share und die Schulungsunterlage Medien.Recht.Ethik, die auch als Online-Tool verfügbar ist[3].

Im Rahmen der Auseinandersetzung mit kritischer Medienkompetenz in der allgemeinen Erwachsenenbildung ist es wichtig, breite Weiterbildungsangebote für Trainer*innen verfügbar zu machen, die sich nicht auf die Vermittlung von funktionalem Bedienwissen zu Geräten und Anwendungen beschränken. Gerade das Hintergrundwissen zu Medienstrukturen, zur Auswirkung von Datafizierung, Desinformation und der Mediatisierung auf die Gesellschaft generell und damit auf die Demokratie ist wichtig um es als Erwachsenenbildner*in lebensnah in unterschiedlichsten Bildungsangeboten an Lernende weitergeben zu können. Die Vertiefung der Zusammenarbeite mit den nicht-kommerziellen Community Medien könnte hier einen wichtigen Beitrag leisten. Und nochmals: zur Auseinandersetzung mit kritischer Medienkompetenz bedarf es konsequent des interdisziplinäreren Austausches und Diskurses, aber auch der Orte und Ressourcen, um ihn zu ermöglichen.

Veranstaltungshinweis: 

Tagung Demokratie- und Wissenschaftsvertrauen in Krisenzeiten – Herausforderungen und neue Möglichkeiten für die Erwachsenenbildung am 27./28.9.2023 im bifeb

Über diesen Blog:

Der Beitrag basiert auf einem Keynote Vortrag im Rahmen der EPALE und Erasmus+ Konferenz 2023 „Fakt oder Fiktion? Vermittlung kritischer Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung“

Über den Autor:

Mag. Helmut Peissl ist Kommunikationswissenschaftler und Medienpädagoge. Seit der Gründung 2010 ist er Geschäftsführer des Vereins »COMMIT – Community Medien Institut für Weiterbildung Forschung und Beratung«. Er leitete Studienprojekte zum Nicht-kommerziellen Rundfunk in Österreich und Europa für die Rundfunk- und Telekomregulierungsbehörde RTR. Gemeinsam mit Dr.in Meike Lauggas veröffentlichte er die Studie »Ich lerne mit jeder Sendung«. Bildungsleistungen und Beiträge zum lebensbegleitenden Lernen des nicht-kommerziellen Rundfunks in Österreich und erstellte 2018 für die österreichische Erwachsenenbildung das Dossier »Kritische Medienkompetenz und Community Medien«. Er ist als Experte für die Abteilung Medien- und Informationsgesellschaft des Europarates aktiv.

Helmut Peissl.

Helmut Peissl © OeAD/APA-Fotoservice/Hörmandinger

Literatur:

Audiovisual Observatory (EAO) (2016). Mapping of media literacy practices and actions in EU-28. European. Strasbourg Online: https://rm.coe.int/media-literacy-mapping-report-en-final-pdf/1680783500

Baacke, Dieter (1997). Medienpädagogik. Niemeyer

Buckingham, David (2019). The Media Education Manifesto. Polity Press

Chapman, Martina et al. (2020). Media Literacy for All. Supporting marginalised groups through community media. Europarat. Strasbourg https://rm.coe.int/cyprus-2020-media-literacy-for-all/1680988374

Couldry, Nick u. Andreas Hepp (2023). Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Mediatisierung und Datafizierung. Springer VS

Karmasin, Matthias (20216). Die Mediatisierung der Gesellschaft und ihre Paradoxien. facultas

Kellner, Douglas u. Jeff Share (2019). The Critical Media Literacy Guide. Engaging Media and Transforming Education. Brill

Krotz, Friedrich (2015). Mediatisierung. In: Hepp, Andreas et al. Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse (p. 439–451). Springer VS

Simanowski, Roberto (2021). Digitale Revolution und Bildung. Für eine zukunftsfähige Medienkompetenz. Beltz Juventa

Singh, Jagdar u.a. (Hrsg.) (2016). Media and information literacy: reinforcing human rights, countering radicalization and extremism. UNESCO https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000246371?posInSet=2&queryId=9d87875d-372b-4c7c-a27d-e9fe54c04596

UNESCO (2021). Media and information literate citizens: think critically, click wisely! Online: https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000377068

 

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