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Kompetenzentwicklung im Arbeitsleben – das Balance-Modell; ein Interview mit Tormod Skjerve

„Ein Balanceakt“ ist ein Modell und eine Methode, mit der am Arbeitsplatz erworbene Kompetenzen so beschrieben werden können, dass sie sowohl allgemein auf dem Arbeitsmarkt als auch im formalen Bildungssystem verstanden werden können.

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Linda Juntunen

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Originalsprache: Englisch


„Ein Balanceakt“ ist ein Modell und eine Methode, mit der am Arbeitsplatz erworbene Kompetenzen so beschrieben werden können, dass sie sowohl allgemein auf dem Arbeitsmarkt als auch im formalen Bildungssystem verstanden werden können.

Tormod Skjerve aus Norwegen hat das „BALANCE-MODELL“ bei der VPL-Biennale in Berlin vorgestellt. Er arbeitet bei der norwegischen Arbeitgeberorganisation VIRKE und ist dort seit 1999 als Senior Policy Advisor tätig. Seit vielen Jahren befasst er sich mit dem Bereich der Kompetenzpolitik, insbesondere mit der Abstimmung von Kompetenzen und Bedarf, Strategien für lebenslanges Lernen, der Rolle der Sozialpartner in Bildung und Ausbildung sowie der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Er vertritt VIRKE bei mehreren nationalen Ausschüssen im Bereich Kompetenzpolitik.

Von 2006 bis 2009 war Tormod Skjerve Senior Expert beim Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop), bei dem er sich hauptsächlich mit Qualifikationen und Entwicklungs- und Umsetzungsstrategien für europäische Instrumente des lebenslangen Lernens befasste. Von der Europäischen Kommission wurde er in das ESCO-Gremium und das europäische ECVET-Expertenteam berufen. Außerdem ist er Mitglied des Eurochambres People Committee.

EPALE hat Tormod Skjerve gebeten, das Modell und die Methode näher zu erläutern. Lesen Sie hier seine Beschreibung und lernen Sie interessante Beispiele aus der Praxis kennen:

Das Balance-Modell

„Bei diesem Balanceakt geht es nicht darum, ein perfektes Gleichgewicht zwischen den Kompetenzen herzustellen, sondern eher darum, bei konstanter Veränderung und Bewegung richtig mit ihnen umzugehen.“

Das Modell spiegelt die sehr dynamische Logik der Kompetenzentwicklung im Arbeitsleben wider. Für die meisten Menschen ist der Arbeitsalltag mit seinen vielen verschiedenen Aufgaben nicht nur komplex, sondern auch voller gegensätzlicher Anforderungen und neuer Herausforderungen. Daher müssen extrem unterschiedliche und mitunter widersprüchliche Kompetenzen entwickelt werden, die dann ausgewogen in der Praxis eingesetzt werden müssen, um Kreativität, Produktivität und Effektivität zu steigern. Vor diesem Hintergrund findet die Kompetenzbildung am Arbeitsplatz statt.

Das Modell schreibt nichts vor und es gibt kein Richtig oder Falsch, was die Platzierung der Kompetenzen betrifft. Es handelt sich um ein dynamisches Modell, was bedeutet, dass eine Kompetenz in Abhängigkeit von Rolle und Kontext für verschiedene Balance-Points relevant sein kann.

Im Bericht „A Balancing Act“ werden die sechs Balance-Points und der jeweilige Balanceakt der drei Dimensionen ausführlich beschrieben und Beispiele für die Dynamik des Modells genannt.

Die Vier-Schritte-Methode

  • Schritt 1: Identifizierung der Kompetenzen
  • Schritt 2: Wesentliche Kompetenzen
  • Schritt 3: Lernergebnisse
  • Schritt 4: Standards/Qualifikationen, die eine einfache und systematische Anwendung des Balance-Modells in der Praxis ermöglichen — in einem einzelnen Unternehmen, einer Unternehmenskette, einer Branche oder auf individueller Basis.

Das Balance-Modell bildet den Rahmen für die Identifizierung der Kompetenzen, und mithilfe der Vier-Schritte-Methode können „unausgesprochene“ Kompetenzen branchenübergreifend und an das formale Bildungssystem kommuniziert werden.

Mit diesem Projekt soll es möglich werden, Standards für Kompetenzen am Arbeitsplatz genauso zu definieren wie Standards im formalen Bildungssystem.

Der Beitrag des „Balanceakt“-Konzepts zur Kompetenzpolitik

Das Balance-Modell: Unserer Ansicht nach lassen sich alle Kompetenzen, die im Arbeitsleben heutzutage nötig sind, in drei Balance-Paare einteilen.

  • Menschen – Technologie
  • Flexibilität – Routinen
  • Tempo – Präsenz

„Für die meisten von uns ist es viel leichter, unsere formale Bildung zu dokumentieren und anderen zu erläutern, als die durch Arbeitserfahrung und interne Schulungen erworbenen Kompetenzen zu erklären und anerkennen zu lassen.“

In der «Norwegian Strategy for Skills Policy 2017-2021» wird daher unter anderem folgende Maßnahme vorgeschlagen: „Vereinfachung des Dokumentationsprozesses für am Arbeitsplatz erworbene Kompetenzen, damit diese effektiv genutzt werden können. Um dies zu ermöglichen, werden eine Methode und ein Modell für die Beschreibung der am Arbeitsplatz erworbenen Kompetenzen entwickelt.“ Genau darum geht es beim „Balanceakt“.

Es werden eine eigene Sprache und Kompetenzstandards geschaffen, die aus dem Arbeitsleben stammen. Dadurch ergibt sich eine bessere Synergie zwischen der Anerkennung von Kompetenzen und mehreren weiteren Bereichen der Kompetenzpolitik: Mobilität, Integration/Inklusion, Berufsberatung und Zusammenarbeit zwischen Ausbildungseinrichtungen und Arbeitsleben.

Norwegen hat ein System für die Anerkennung von Vorwissen, bei dem jeder Einzelne das Recht hat, seine Kompetenzen auf Basis der Qualifikationsstandards des formalen Bildungssystems bewerten zu lassen. Es gibt keinen vergleichbaren Anerkennungsmechanismus für Arbeitsplatzstandards. Mit unserem Modell soll es genauso leicht werden, Standards für Kompetenzen am Arbeitsplatz zur Anerkennung von Vorwissen zu verwenden, wie es ist, Bildungsstandards anzuwenden.

Dass wir die Möglichkeiten der beruflichen Mobilität verbessern, kommt sowohl den einzelnen Arbeitnehmer*innen als auch den Unternehmen und der Gesellschaft zugute. Dadurch, dass die am Arbeitsplatz erworbenen Kompetenzen im Hinblick auf ihre Relevanz für alle Branchen beschrieben werden, werden die Kompetenzen verständlich und in allen Branchen anwendbar.

Die Übernahme der Lernergebnisse in das Arbeitsleben verschafft dem lernergebnisorientierten Ansatz innovative Elemente und trägt zum Brückenschlag zwischen Ausbildung und Arbeitsleben bei.

Beispiel

Wir sind dabei, die beim Balanceakt-Konzept entwickelten Kompetenzstandards im Einzelhandelssektor und den Bildungsstandard für Verkaufsmanager im formalen norwegischen Berufsausbildungssystem zu integrieren. Dadurch, dass die Lernergebnisse sowohl im Arbeitsleben als auch im Ausbildungssystem für die inhaltliche Beschreibung der Kompetenzen verwendet werden, kann die Relevanz und Qualität bei der Kompetenzbildung in beiden Lernsystemen verstanden und diskutiert werden. Durch die Integration können Auszubildende im formalen System an genau derselben praktischen Ausbildung teilnehmen wie normale Angestellte im Einzelhandel und kann die unternehmensinterne Ausbildung im Rahmen der formalen Berufsqualifikation anerkannt werden.

Durch die Entwicklung von Standards und die Nutzung von Lernergebnissen am Arbeitsplatz kann jede*r seine/ihre Vorkenntnisse anhand von Arbeitsplatzstandards anerkennen lassen. Dies wird der gesamten Gesellschaft zugutekommen, da jede*r seine/ihre Kompetenzen leichter und genauer dokumentieren kann. Dadurch werden am Arbeitsplatz erworbene Kompetenzen gerechter und positiver bewertet, was für eine bessere Mobilität, Integration und Inklusion sorgen wird.

Im Mittelpunkt dieses Projekts stand der Einzelhandelssektor, aber die Methode und das Modell lassen sich auch auf andere Branchen anwenden.

Beispiel

Wir haben das Balanceakt-Konzept verwendet, um einen Kompetenzstandard für die Position „Leiter*in eines Pflegeheims“ zu schaffen. Dafür ist ein Abschluss in Pflegeheilkunde erforderlich – die formale Qualifikation gewährleistet also die Grundkompetenzen für die Bekleidung dieser Position auf dem Arbeitsmarkt und wird Bestandteil des Punkts „Routinen“ des Balance-Modells sein. Leiter*innen von Pflegeheimen müssen aber auch über Erfahrungen im Gesundheitswesen und Personalmanagement verfügen, alle einschlägigen Rechtsvorschriften kennen sowie unter anderem Haushaltsführung und Prozessmanagement beherrschen. Diese Kompetenzen kann man sich zwar im formalen Bildungssystem aneignen, doch viel häufiger werden sie über Erfahrungen, Kolleg*innen und individuelle Lernaktivitäten erworben. Nur wurden die für die Ausübung dieser konkreten Position im Arbeitsleben benötigten Kompetenzen bisher weder beschrieben noch dokumentiert.

Derzeit läuft ein Projekt in Zusammenarbeit mit der öffentlichen Erwachsenenbildungseinrichtung Oslo Voksenopplæring, bei dem das Balance-Modell für die Identifizierung und Beschreibung der Kompetenzen von Migrant*innen und Geflüchteten und die Anerkennung von Vorwissen anhand der im Einzelhandelssektor entwickelten Kompetenzstandards verwendet wird.

Beispiel

Es ist eine interessante Herausforderung, einen syrischen Flüchtling mit einem Bachelor in Agrarwissenschaft zu interviewen, der während des Kriegs in Aleppo Manager eines Geschäfts für Damenschuhe war und dann auf seinem Weg nach Norwegen mehrere Jahre lang in der Türkei ein Restaurant betrieb. Verwendet man für die Beschreibung der Kompetenzen das Modell und die Methode des Balanceakts, erkennt man sehr leicht, ob seine individuellen Kompetenzen zu den Kompetenzstandards für bestimmte Positionen auf dem norwegischen Arbeitsmarkt passen, die in Bezug auf Balance-Points und Lernergebnisse gleich beschrieben sind.

An diesem Projekt waren rund 150 Personen beteiligt, die dem Einzelhandels- und Dienstleistungssektor, dem Gesundheitswesen, Sozialpartnern, nationalen Behörden, Aus- und Weiterbildungsanbietern, Organisationen und Forschungseinrichtungen angehören. 2019 wird in folgenden Branchen ein Pilotprojekt gestartet: im Finanzwesen, Verlagswesen und in der Sport- und Fitnessbranche.

Derzeit diskutieren wir mit dem Voksenopplæringsforbundet, dem norwegischen Hauptverband der Erwachsenenbildung (Privatsektor), die Anwendung des Balanceakt-Konzepts in seinen Mitgliedsorganisationen und beim Lernen in der Gesellschaft.

Die Norwegische Agentur zur Qualitätssicherung in der Bildung (NOKUT) hat die im Bericht präsentierten Lernergebnisse geprüft, und wir wollen nun gemeinsam einen neuen nationalen Standard für Lernergebnisse etablieren, der sowohl Standards der formalen Bildung als auch Kompetenzstandards umfasst.

Text: Margrét Sverrisdóttir


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