Große Vielfalt, zu wenig Gleichberechtigung – wie kann der ESOL-Lehrplan zur Bekämpfung von Rassismus beitragen?

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Dieser Beitrag wurde im englischen Original von Nafisah GRAHAM-BROWN veröffentlicht.

Die Ermordung von George Floyd, die weltweit zu Protesten gegen Rassismus geführt hat, setzte im Vereinigten Königreich eine kritische Untersuchung von bzw. Diskussion über strukturellen und anderweitigen Rassismus in Gang. Der Mord an Floyd geschah zu einer Zeit, in der Menschen, die von Schwarzen oder Minderheiten abstammen, überproportional häufig an COVID-19 sterben. Im Vereinigten Königreich ist ersten Ergebnissen zufolge struktureller Rassismus eine grundlegende Ursache [EN] für diese Todesfälle. Ein Großteil der Schwarzen, Asiaten und Angehörigen ethnischer Minderheiten ist erst vor Kurzem zugewandert und ein Teil von ihnen wird als Flüchtlinge und Migrant*innen in unseren ESOL-Kursen Englisch lernen.
In einem kürzlich veröffentlichten EPALE-Blogbeitrag [EN] wird die Rolle der Erwachsenenbildung bei der Bekämpfung von Rassismus untersucht und für Lehrpläne und Unterrichtsmethoden geworben, die auf größere Integration ausgerichtet sind. Die britischen ESOL-Lehrpläne beinhalteten bisher den Erwerb einer nützlichen funktionellen Sprache, mit deren Hilfe Neuankömmlinge in ihrer neuen Gemeinschaft leben können. Thematisch ging es beispielsweise um die Anmeldung und Terminvereinbarung bei Ärzten, das Einkaufen und andere Alltagssituationen. Innerhalb dieser Kontexte wird die Sprache vermittelt. Darüber hinaus werden in den ESOL-Kursen auch die kulturellen Unterschiede gefeiert. Damit wird etwas für die Förderung der Vielfalt als Wert im Vereinigten Königreich getan, und in vielen Inspektionsberichten wurde die hervorragende Arbeit hervorgehoben, die ESOL-Fachbereiche hierbei leisten. Die andere Seite der Medaille, die meiner Meinung nach jedoch fehlt, ist die Förderung der Gleichberechtigung als fundamentaler Wert. Um echte Gleichberechtigung zu fördern, müssen wir meines Erachtens eine anti-rassistische Haltung einnehmen.
Die Außenwelt ins Klassenzimmer holen

Partizipative Ansätze nutzen, um eine Sprache für kritisches Denken zu entwickeln
Neben einer funktionellen Sprache für den Alltag müssen wir meines Erachtens eine Sprache entwickeln, mit der Dinge hinterfragt und diskutiert werden können, um bei unseren Schüler*innen auf partizipative Weise die Fähigkeit zu kritischem Denken herauszubilden. Damit im Unterricht Demokratie herrscht, müssen die Schüler*innen ihre Gedanken und Sorgen zum Ausdruck bringen können, was mitunter zu Meinungsverschiedenheiten führen kann. Wenn man sich dabei im Vorfeld auf Diskussionsregeln und gegenseitigen Respekt einigt, können kritische Diskussionen möglich und Streitigkeiten vermieden werden. Eine Konzentration auf die Sprache, die bei diesen Unterrichtsstunden verwendet wird, kann dabei helfen, die Diskussion zu lenken. Als Pädagog*innen sollten wir uns ein wenig mit partizipativer ESOL-Pädagogik (vgl. Reflect for ESOL [EN]) und auch mit dem jeweiligen Thema beschäftigen, damit wir potenzielle Fragen besser beantworten können. Mitunter kann es hilfreich sein, Manager*innen in unsere Planung einzubeziehen. Ich weiß von Fällen, in denen Pädagog*innen ihr Management im Vorfeld darüber informieren, dass sie bestimmte Themen diskutieren werden, falls die Schüler*innen weitere Fragen haben sollten.
Alltagsrassismus nachgehen und Bedürfnisse der Sprachschüler*innen in Bezug auf Anerkennung und Reaktion weiterentwickeln

Ich möchte noch weitere Beispiele für Situationen meiner Schüler*innen nennen, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin:
- Jemand ist noch provisorisch untergebracht, aber eine andere Person aus demselben Heim, die einer anderen Ethnie angehört, erhält eine Wohnung.
- Ein Busfahrer schreit jemanden an, der seine Frage nicht versteht.
- Der Lehrer eines Kindes einer meiner Schüler*innen sagt, dass das Kind nicht erzählt habe, dass es einen Unfall hatte und deshalb den ganzen Tag in schmutziger Kleidung herumläuft.
- Die Familie des Ehemanns einer meiner Schülerinnen macht rassistische Bemerkungen.
Möglicherweise beruhen nicht alle beschriebenen Situationen auf Rassismus. Ich bin jedoch der Meinung, dass sie verdeutlichen, dass wir unseren Schüler*innen zuhören und ihre Erfahrungen in den Unterricht einbringen müssen, wenn wir über die Sprache nachdenken, die für diese scheinbar unproblematischen Situationen benötigt werden könnte. Beim ESOL-Unterricht geht es nicht nur um die Vermittlung einer Fremdsprache. Wir bringen unseren Schüler*innen auch bei, wie sie sich in unserem komplizierten Alltag im Vereinigten Königreich bewegen. Damit dies gelingt, müssen wir ihnen Wissen und Instrumente an die Hand geben, die sie benötigen, um Diskriminierung und Rassismus zu erkennen. Noch besser wäre es, wenn wir ihnen helfen könnten, zu lernen, wie man gegen Rassismus vorgeht und sich in solchen Situationen selbst verteidigt. Der erste Schritt besteht dabei darin, zu erkennen, dass im Vereinigten Königreich Rassismus existiert, und mit unseren Schüler*innen darüber zu sprechen.
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Nafisah Graham-Brown ist eine der nationalen Co-Vorsitzenden von NATECLA, dem nationalen Verband der Lehrer*innen für Englisch und Gemeinschaftssprachen im Vereinigten Königreich. Von ihrem Posten als Leiterin des Bereichs für Lebenskompetenz und Gemeinschaft bei der im Bildungsbereich tätigen Londoner Wohltätigkeitsorganisation ELATT ist sie derzeit freigestellt. Vor Kurzem wurde sie vom UCL Institute of Education promoviert.
Ihr Forschungsinteresse gilt den Erfahrungen von Flüchtlingen und Migrant*innen, die Englisch lernen und sich in die britische Gesellschaft integrieren, der Rolle von ausgebildeten Sprachlehrer*innen, Grundkompetenzen von Erwachsenen im Vereinigten Königreich und den Beziehungen zwischen Anbietern im Bereich Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Das Thema ihrer Doktorarbeit war der Zusammenhang zwischen sozialer Interaktion auf Englisch und dem Zugehörigkeitsgefühl der Betroffenen.
Sie ist mit einem New Yorker verheiratet, lebt in London und liebt Katzen.
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