EPALE Longread: Durch Erfolg eine Heimat schaffen – ein Interview zum Thema Gefängnistheater mit Theaterleiterin Hannele Martikainen

Originalsprache: Englisch

Die erfolgreiche Teilnahme an einer Theateraufführung kann für einen Häftling eine durchschlagende Erfahrung sein – davon ist Hannele Martikainen, erfahrende Leiterin eines Gefängnistheaters, überzeugt. Eine Voraussetzung für diesen Erfolg ist ein Prozess mit einer steilen Lernkurve, der auf dem Engagement der Häftlinge aufbaut.
„Meiner Meinung nach sind die meisten Häftlinge heimatlos. Damit meine ich nicht, dass sie obdachlos sind oder kein Elternhaus haben, sondern dass sie sich im Herzen zutiefst heimatlos fühlen und dadurch in ihre aktuelle Situation geraten sind.“
Seit zehn Jahren arbeitet Theaterleiterin Hannele Martikainen mit Häftlingen an Theaterprojekten in Gefängnissen. Obwohl ihr nie eine Karriere als Theaterpädagogin vorschwebte, gehört sie in ihrem Heimatland Finnland mittlerweile zu den führenden Theatermachern in Gefängnissen. Auf ein einmaliges Engagement als Regisseurin in einem Gefängnistheater vor zehn Jahren folgten zahlreiche Produktionen in anderen Gefängnistheatern – und mit den Lernprozessen, die Gefängnistheater zu einem wirkungsvollen Resozialisierungs- und Lerninstrument machen, ist Martikainen nun bestens vertraut.
„Die Häftlinge sind heimatlos, können aber durch unsere Arbeit eine neue Heimat bekommen“, so Martikainen. „Mit einer Sache Erfolg zu haben, oft zum ersten Mal überhaupt, fühlt sich an wie eine Heimat, in die man zurückkehren kann.“

Seit über zehn Jahren arbeitet Theaterleiterin Hannele Martikainen als Regisseurin an
Theaterprojekten in Gefängnissen.
Foto: Jukka Kotkanen
Von der Theaterbühne ins Gesellschaftsleben
Beim Gefängnistheater üben Häftlinge unter Anleitung professioneller Theatermacher freiwillig ein Theaterstück oder einen Auftritt ein, die anschließend zur Aufführung kommen. Projekte dieser Art werden oft mit öffentlichen Mitteln finanziert und finden verständlicherweise in enger Zusammenarbeit mit den entsprechenden Strafvollzugsbehörden statt. Martikainen arbeitet im Rahmen des Gefängnistheaters NGO Taittuu, das von der finnischen Behörde für strafrechtliche Sanktionen gefördert wird.
Zurzeit befindet sich Hannele Martikainen wieder mitten in einer Probenphase, dieses Mal mit Häftlingen im geschlossenen Vollzug eines Gefängnisses in Ostfinnland. Das Drehbuch, das auf finnischen Volksmärchen basiert, schreiben die Häftlinge dabei selbst. Inhaltlich geht es um Dorftrottel. Die Premiere soll im September sein.
Worin besteht – von allen Resozialisierungs- und Lernformen – für Martikainen der Sinn von Theater?
„Kooperation, Kommunikation und Kompromissfähigkeit sind die Grundpfeiler des Theaterbetriebs. Mit diesen Themen kommen unvermeidlich alle in Berührung, die an einer Theaterproduktion beteiligt sind. Bei Häftlingen sind dies wichtige Fähigkeiten, die sich auf das Leben in der Gesellschaft übertragen lassen“, so Martikainen.
Diese Fähigkeiten fallen den Gefangenen nicht einfach in den Schoß. Dies erfordert Engagement – von den schauspielernden Häftlingen bis zum gesamten Produktionsteam –, was wiederum das Erlernen von Vertrauen verlangt, das für Häftlinge mitunter schwierig sein kann. Glücklicherweise lässt sich diese Fähigkeit aber auch üben – einstudieren.
„Der Mut zum Scheitern ist für den künstlerischen Prozess ebenfalls unerlässlich. Alles basiert auf Learning by doing. Hier orientiere ich mich an John Dewey und seiner Erlebnispädagogik“, führt Martikainen weiter aus.
Eine Revolution des Selbstbilds
Kooperation, Kommunikation, Vertrauen – diese Fähigkeiten ebnen einer erfolgreichen Resozialisierung nach der Haft den Weg. Den Erfahrungen von Martikainen zufolge hat das Theater sogar noch weitreichendere Auswirkungen.
Sie hat bei ihren Produktionen erlebt, dass viele Häftlinge sich über ihre Defizite in der Vergangenheit definiert haben. Viele denken von sich „Ich kann nichts, bin zu nichts fähig, weiß nichts.“ Bei einem Probenprozess für ein Theaterstück soll ihnen gezeigt werden, dass etwas, für das sie sich gewissenhaft einsetzen, letztlich zu Ergebnissen führt. Durch kontinuierliches Engagement eines Häftlings entwickelt sich seine Unfähigkeit allmählich zu einer Fähigkeit. Dies kommt einer Revolution des Selbstbilds des Betroffenen gleich.
Drei-Loyalitäten-Methode
Martikainen arbeitet mit einer Methode, die sie als die „drei Loyalitäten“ bezeichnet. Am Anfang steht sie auf der Seite des Einzelnen – jedes Einzelnen in der Gruppe. Dies ist der erste Schritt.
„Ich muss herausfinden, welcher Schauspieler emotionale Unterstützung braucht, welcher einen Tritt in den Hintern und welcher die technischen Fähigkeiten für die Bühne. Hier muss man als Leiter immer Pädagoge sein.“
Ist dieses anfängliche Vertrauen aufgebaut, erweitert Martikainen ihre Loyalität auf die gesamte Gruppe. Dies ist der zweite Schritt.
„Ich fördere den Teamgeist, schütze die Gruppe als Ganzes und finde heraus, was sie für die Aufführung braucht.“
Der dritte Schritt erfolgt kurz bevor sich der Vorhang zur Premiere hebt.
„In der Endphase geht meine Loyalität aufs Publikum über. In dem Moment verlange ich von meinen schauspielernden Häftlingen, dass sie die Herausforderung annehmen und das Publikum nicht enttäuschen. Alle Tränen, die auf dem Weg dahin vielleicht vergossen wurden, sind nun vergessen, denn jetzt gilt es, eine Show zu liefern!“
Mit diesen drei Schritten wird das Engagement erreicht, das für einen erfolgreichen Prozess – und letztlich eine erfolgreiche Aufführung – erforderlich ist. Und eine erfolgreiche Aufführung kann für die Heimatlosen wie eine Heimat sein.
Die vielen Gesichter des europäischen Gefängnistheaters
Aufgrund seiner Ziele im Hinblick auf die Resozialisierung und Herausbildung neuer Fähigkeiten kann das Gefängnistheater als Teil der Aus- und Weiterbildung im Gefängnis angesehen werden. Der hier beschriebene Fall aus Finnland ist nur ein Beispiel für das europäische Gefängnistheater, das verschiedene Formen und Ansätze kennt.
Gefängnistheater gibt es in vielen europäischen Ländern, und EU-Programme wie Sokrates, Leonardo, Grundtvig und später Erasmus + waren wichtige Finanzierungsquellen für entsprechende Aktivitäten.
„In Europa gibt es sehr viele verschiedene Methoden des Gefängnistheaters. Dieser Bereich ist meiner Ansicht nach sehr gut entwickelt“, denkt Hannele Martikainen.
„Was meine Produktionen von denen meiner europäischen Kollegen etwas unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir meines Wissens die einzigen sind, die die Aufführungen nicht im Gefängnis, sondern an echten Theatern zeigen.“
Dies ist Martikainen zufolge ein entscheidender Aspekt der Resozialisierung. Denn die Aufführung in einem zivilen Umfeld sei für die Häftlinge besonders wichtig, um sich der Schande und dem Stigma, die mit einer Gefängnisstrafe verbunden sind, zu stellen – um für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar zu werden und das Gefühl der Scham anzunehmen, um es schließlich zu überwinden.
Europäische Organisationen im Bereich Gefängnistheater
- Im Vereinigten Königreich ist eine entsprechende Theaterszene entstanden, an der sich viele aktive Gruppen und Organisationen beteiligen, z. B. TiPP, Geese Theatre Company und Clean Break. Eine gute Informationsquelle für die Auswirkungen von Kunstprojekten in Gefängnissen ist die Evidence Library des britischen Dachnetzwerks für ausübende Künstler in Strafvollzugsanstalten.
- In Deutschland hat die Gefängnistheatergruppe aufBruch kürzlich in Zusammenarbeit mit Musikstudenten eine Oper aufgeführt. Außerdem hat diese Gruppe im Rahmen eines europäischen Projekts ein Compendium of good practices for prison theatre verfasst.
- In Italien haben Gefängnistheaterprojekte die Aufmerksamkeit der nationalen Medien auf sich gezogen, da sich auch ehemalige Mafiamitglieder auf der Bühne gezeigt haben. Ein Beispiel für eine Gruppe, die mit Häftlingen arbeitet, ist das Projekt Teatro dei Venti.
- In Spanien arbeitet das Teatro Yeses in Madrid seit Jahrzehnten mit weiblichen Gefangenen.
Haben Sie von anderen Projekten im Bereich Aus- und Weiterbildung im Gefängnis gehört oder an ihnen teilgenommen? Erzählen Sie uns davon in den Kommentaren! |
Markus Palmén ist Journalist, Autor und Produzent für audiovisuelle Inhalte, und er ist Freiberufler. Seit August 2017 ist er bei EPALE Themenkoordinator für Politik. Acht Jahre lang war Markus Chef vom Dienst und Chefredakteur des European Lifelong Learning Magazine.
Kommentar
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