Das Kollektiv KELVOA

[Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Französisch veröffentlicht. Er wurde von EPALE Frankreich übersetzt]
Die aktuellen Herausforderungen an Betreuung
Die Folgen der Zeit, die wir sowohl kollektiv als auch individuell gerade durchmachen, sind zahlreich und nicht alle vorhersehbar. Über die Wirtschaftskrise und ihre Folgen für die Beschäftigung hinaus sehen wir Auswirkungen auf alle Ebenen des sozialen Lebens, mit dem eindeutigen Risiko einer erhöhten Prekarität. Die Unmöglichkeit, die Dauer und die Risiken dieser Situation abzuschätzen, verstärkt die Probleme der so genannten „vulnerablen“ Zielgruppen: materielle Bedürfnisse, Angst und Verunsicherung, Angst vor der Zukunft, das Gefühl, das eigene Leben nicht mehr kontrollieren zu können... all diese Auswirkungen werden wahrscheinlich zunehmen. Die Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen und Mechanismen eingeführt, um den am stärksten betroffenen Menschen und Unternehmen zu helfen. Wenn es bei all diesen Aktionen einen gemeinsamen Punkt gibt, dann ist es der, dass sie systematisch auf persönlicher Unterstützung basieren. Dies ist natürlich zu begrüßen. Aber der Begriff Betreuung (accompagnement) bleibt aufgrund seiner „Überbeanspruchung“ durch die Medien ein vager Begriff, anscheinend einvernehmlich, stillschweigend, offensichtlich und dennoch schlecht ausgearbeitet: keine rechtliche Definition, mehrere theoretische Korpora, eine nicht immer strukturierte Professionalität... obwohl die Zahl der Fachleute, die behaupten, an dieser Aktivität beteiligt zu sein, zunimmt, obwohl keine zuverlässigen quantitativen Daten verfügbar sind. Dies umso mehr, als darunter zuweilen Konzepte verstanden werden, die ähnlich sind (Coaching, Beratung...) und zu denen eine Verbindung besteht. Das Wort accompagnement ist für unsere europäischen Nachbarn nicht immer leicht zu übersetzen.

KELVOA: Philosophie und Ethik der Betreuung
Auf der Grundlage dieser Beobachtungen und als Antwort auf die Ungenauigkeit des Konzepts wurde KELVOA von einem Kollektiv europäischer Fachleute gegründet, die sich an diejenigen richten, die in einer Vielzahl von Bereichen im Bereich der Betreuung tätig sind (Berufsberatung, Sozialarbeit, Gesundheit, Bildung und Ausbildung, Kultur, Staatsbürgerschaft....). Kurz gesagt, ein Labor für soziale Innovation, das speziell auf l’accompagnement, also die Betreuung, ausgerichtet ist und sowohl den Betreuenden als auch denjenigen, die begleitet werden, eine Stimme gibt, die sich an öffentlichen Debatten zu technischen und ethischen Aspekten beteiligen kann. Austausch, Strukturierung, Initiierung und Förderung von Experimenten, Publizieren, Beteiligung an öffentlichen Debatten... diese Ziele verfolgt KELVOA seit seiner Gründung.
Dieses Kollektiv hat das Manifest „Philosophie und Ethik der Betreuung“ verfasst, das eine bestimmte Konzeption der Betreuung fördern will und wieder eine Debatte über Praktiken eröffnen will, bei denen die Gefahr einer Standardisierung besteht. Insgesamt 18 Beiträge zu diesem Thema von Betreuenden, Forscher*innen und betreuten Personen wurden in einer Aufsatzsammlung unter dem Titel L'art d'accompagner autrement: différents regards zusammengefasst, das Juni 2017 von Editions KELVOA veröffentlicht wurde. In den letzten fünf Jahren wurden regelmäßige Treffen organisiert, die einen roten Faden hatten: das Bestreben, die individuelle und kollektive Reflexion durch mehrere Prismen zu nähren und zu erweitern, und dabei die zu betreuenden Personen zu berücksichtigen.
Ein Kollektiv, das auch eine Reaktion auf bestimmte Erkenntnisse ist
In der Einleitung zum Manifest tauchen weitere Aspekte auf: Die vielfältigen institutionellen Zugehörigkeiten und die gegenwärtige Krise machen es recht schwierig, wirklich kooperativ zu arbeiten und sich wirklich auf die Probleme der Menschen zu konzentrieren, die wir betreuen und unterstützen müssen. Die Betreuenden sind jedoch eher nach ihrer Mitgliederstruktur oder den von ihnen erbrachten Dienstleistungen organisiert und sehr wenig im Verhältnis zu dem Beruf, den sie ausüben.“ Dies hat den Verein dazu veranlasst, Einzelmitgliedschaften zu bevorzugen, um zu vermeiden, dass das Wort von Netzwerken oder Institutionen übernommen wird.
Ausgehend von einer so formulierten allgemeinen Definition von accompagnement (Betreuung) (Betreuung ist eine Form der Unterstützung, die es einer Person ermöglicht, etwas zu tun, was ohne diese Begleitung schwieriger wäre...), basiert das Kollektiv auf einer Vorstellung von Menschen als Träger mobilisierbarer Ressourcen. Auf das Verfahren bezogen steht Begleitung dafür,gemeinsam zu gehen, Umwege und Überraschungen zu integrieren, im Gegensatz zu einem Verfahren, bei dem nur reproduziert werden muss, um das Ergebnis zu garantieren. Die Prinzipien: dass die Person Experte ihrer eigenen Situation, Vertreterin ihrer Interessen und frei bei der Wahl von Optionen bleibt, und dass die Unterstützung, die der Person angeboten wird, beim Umgang mit dieser Eigenverantwortung hilft statt Angst oder Schuldgefühle auszulösen....
Agnès Heidet, Beraterin, Mitbegründerin, von Anfang an dabei, präzisiert diese Herausforderungen: Heute wird Betreuung nicht mehr ohne eine Pädagogik der Förderung auskommen können, die es erlaubt, sich sowohl einer existentielleren Dimension zu öffnen (wie kann man ein Leben führen, das einen Wert für sich selbst hat?) mit unterstützender Begleitung (Ko-Konstruktion in der Situation) und Förderung insbesondere durch Interaktion und kleine Schritte (in der Nähe, nebenan...).

Eine Kompetenz, die aktueller ist denn je
Stehen die Fragen des professionellen Handelns, der Haltung und der erforderlichen Kompetenz im Zentrum der Reflexion, versucht das Kollektiv, sie in einen strukturierenden Rahmen zu stellen, der jedoch offen für eine Debatte bleibt: die vorhergehenden Aussagen müssen diskutiert und erörtert werdenkönnen. Es geht nicht darum, sich auf Dogmen zu stützen, sondern Handlungsprinzipien festzulegen, die im Zuge des Wandels der Gesellschaft, des Denkens und der allgemeinen Praktiken weiterentwickelt und bereichert werden können.
Um diese Idee des Teilens und der Zusammenarbeit herum wurde der Verein aufgebaut. Und eben diese kollektive Intelligenz erscheint sowohl als Bedingung für die Entwicklung des Kollektivs als auch im weiteren Sinne als Grundlage für die Gestaltung der entwickelten Unterstützung und der Projekte, die dies veranschaulichen: Lernregionen, Drittorte, Entwicklung von individueller und kollektiver Handlungsmacht, Auswirkungen der digitalen und künstlichen Intelligenz usw.
Frédéric Peyrou, ein aktives Mitglied des Kollektivs, der an Gestaltung und Durchführung mehrerer Kelvoa-Treffen beteiligt war, präzisiert dazu: Kelvoa, das ist ein Feld des intellektuellen Experimentierens. Ein Ort, an dem man seinen Inspirationen freien Lauf lassen kann, Wünschen freien Lauf lassen kann, sich Werkzeuge vorstellen und sie erstellen kann, um die Betreuung von Morgen anders zu gestalten. Außerdem steht Kelvoa für Begegnung. Mit anderen Experimentierer*innen, unabhängig von ihrer Erfahrung, die ihre Erfahrung und/oder Energie teilen und dabei helfen, diese neuen Werkzeuge zum Leben zu erwecken.
Die Vorteile von Begegnungen
Aber wenn man sich die einzelnen Erfahrungen anhört und den Ablauf der Treffen und die Beiträge studiert, nimmt man einen weiteren Aspekt wahr.
Carlos Ribeiro, Berater in Portugal und Mitbegründer, erläutert diesen Aspekt: Kelvoa ist als Kollektiv ein Ort der Begegnung und des Austausches und bietet Unterstützung in strategischer und methodischer Hinsicht. Aber vielleicht ist es vor allem ein Raum der Komplizenschaft. Die affektive und emotionale Dimension ist hier wesentlich, um in Vielfalt gemeinsam zu konstruieren. Dies wurde bei der Konstruktion von Kollektiven lange unterschätzt. Ideen, Konzepte, Werkzeuge, Erfahrungen existieren, werden präsentiert, diskutiert. Aber nicht nur das. Informell werden Wege einer möglichen Konvergenz gezeichnet. Und wir stellen systematisch das Einstimmigkeitsprinzip in Frage, das einen kritischen Blick verhindern würde.
Kelvoa bietet aber auch einen Rahmen, um kulturelle Vielfalt im Bereich der sozialen Intervention zum Ausdruck zu bringen. Denn über die Annäherung an bestimmte, typisch französische Themen hinaus stellt das Kollektiv eine Art Appell an verschiedene Standpunkte dar, die, was mich betrifft, auf einem eher mediterranen Lebenssinn basieren. Diese Toleranz gegenüber anderen ist das Herzstück von Kelvoa, das auch ein Raum der europäischen Komplizenschaft sein soll und zu einem integrativeren und effektiveren sozialen Europa beitragen will.
Perspektiven
5 Jahre später sind die Fragen zum Theme Betreuung und Begleitung aktueller denn je. Die Veranstaltung regelmäßiger Treffen, die als verbindende Kraft für die Mitglieder dienen, ermöglicht es auch, diese Überlegungen einem immer breiteren Publikum zu vermitteln. Aber die europäische Dimension ist von wesentlicher Bedeutung. Carlos Ribeiro setzt hinzu: die Krise, die wir durchmachen, ist nicht nur eine Episode. Sie wird unsere Art zu leben und zu arbeiten grundlegend verändern. Das bedeutet auch, dass wir sowohl unsere Wirtschaftsmodelle als auch unsere sozialen Organisationen im Hinblick auf mehr Besonnenheit und kollektive Intelligenz überdenken müssen. Wenn wir die Reflexion ausdehnen, nehmen wir wahr, dass Betreuung gleichzeitig die Veranschaulichung (auf eine andere Art betreuen) und auch das Mittel ist (von den Anliegen der Menschen ausgehen, und nicht davon, was sie unserer Meinung nach tun sollten). Es ist eine Lehre von weniger vertikalen und mehr kooperativen Formen, die eine bescheidenere und solidarischere Gesellschaft ermöglichen. In dieser Hinsicht geht unsere Fähigkeit, uns als Teil eines gemeinsamen Schicksals zu fühlen, weit über reine Unterstützungsfragen hinaus. Sie stellt unsere Art und Weise in Frage, kollektiv in der Welt zu stehen und uns als Schicksalsgemeinschaft zu fühlen.
André Chauvet, EPALE Frankreich Botschafter
https://www.kelvoa.com/notre-manifeste/
https://www.kelvoa.com/for-the-philosophy-and-ethics-of-personal-accompaniment/
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