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Pädagogische Professionalität in der Migrationsgesellschaft – intersektional denken

Können pädagogische Fachkräfte Einfluss auf die Überwindung rassistischer Denk- und Verhaltensmuster ihrer Kursteilnehmenden nehmen und wenn ja: wie?

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Gemischte Farben (© Sharon McCutcheon / Pexels)

© Sharon McCutcheon / Pexels


Wir leben in einer Gesellschaft, die entlang von willkürlich gesetzten Markierungen diskriminierende Abwertungen, Benachteiligungen und den Ausschluss von Menschen legitimiert (Hall 2012/1992). Beispiele für diese Markierungen sind die Hautfarbe, die Sprache, das Geschlecht, das Begehren, die Religion, der Habitus und vieles mehr. Durch solche Markierungen entstehen Differenzlinien innerhalb einer Gesellschaft, durch die bestimmte Ordnungen geschaffen werden (Mecheril/Melter 2010). Während die einen im Rahmen dieser Ordnung oberhalb der dynamisch-brüchigen Differenz-Linie einsortiert werden, wo sie über Privilegien und erweiterte Handlungsspielräume verfügen (klassisches Beispiel: der weiße-christliche-heterosexuelle-leistungsfähige Mittelschichtsmann), werden den anderen Plätze auf den unteren Seiten der Linien zugewiesen. Ein weiterer Teil mäandert in den Zwischenräumen. Befinden sich Menschen entlang mehrerer, verschiedener Differenzlinien auf unteren gesellschaftlichen Positionen, gehen damit verschiedene, miteinander verschränkte Diskriminierungserfahrungen einher. Schwarze Feministinnen in den USA beschrieben dieses Phänomen des „interlocking system of oppressions“ schon 1978 im Combahee River Collective Statement  (Eisenstein 1978 [1977]). Sie beziehen sich in diesem Statement kritisch auf ein System, in dem Patriachat, Neoliberalismus, Weiße Vorherrschaft (White Supremacy) und Heteronormativität ineinandergreifen, so dass davon negativ betroffene Menschen mehrfach diskriminiert werden.

Die Zustimmung der herrschenden Mehrheit zu diesen gewaltvollen gesellschaftlichen Ordnungen, auch dann, wenn diese Ordnungen sich vielleicht sogar gegen sie selbst richten, wird unter anderem in pädagogischen Räumen hergestellt und kann daher auch in diesen irritiert werden (vgl. etwa Giroux 2017). Spezifisch für den Kontext der Erwachsenenbildung, habe ich gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von kritischen Kolleg*innen, denen ein eindeutiges öffentliches Statement zur Rolle der Erwachsenenbildung genauso wichtig war wie mir, das „Manifest der kritischen Erwachsenenbildung“ verfasst (vgl. Aktionsgruppe 2019). In diesem wird deutlich, dass die Erwachsenenbildung und ihre pädagogischen Fachkräfte bei der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zentral mitwirken können und sollten.

Die Rolle der pädagogischen Fachkraft

Aber wie kann das funktionieren? Inwiefern können einzelne Bildungsinstitutionen, Kursleitungen, einzelne Erwachsenbildner*innen tatsächlich einen Einfluss darauf ausüben, welche Perspektiven Menschen auf ihre Lebenswelt entwickeln? Pädagogische Fachkräfte der Erwachsenenbildung gehören – ähnlich wie beispielsweise Medienmacher*innen – zu denen, die Diskurse nicht nur im privaten Raum, sondern im professionellen Kontext reproduzieren. Sie wiederholen also mit multiplikatorischer Wirkung Norm(alität)en und Standards, die dadurch gefestigt, aber auch irritiert werden. Habe ich oft genug gelesen oder gesagt, dass Frauen mit Vollverschleierung unheimlich sind, weil ihr Gesicht nicht sichtbar wird, empfinde ich vielleicht tatsächlich ein schauriges Unbehagen, wenn mir dann tatsächlich mal im realen Leben eine solche Person begegnet. Lange noch bevor ich weiß, ob die Person vielleicht sogar das Potential dazu hätte, eine enge Freundin von mir zu werden, wird sie mit diskursiven Blitzen der Ablehnung, Bedrohung und Abwehr weit von mir weggehalten.

Wissensvermittlung findet sprachlich statt und Sprache wiederum ist der Ort, an dem Bedeutungen konstruiert und weitergegeben werden. Auch die eingangs erwähnten willkürlich gesetzten Markierungen entlang von Hautfarbe, Religion u.a. werden also zunächst sprachlich konstruiert und wirken sich erst dann im realen, materiellen Leben der Menschen aus, wenn sie zu einer „Normalität“, einem allgemeingültigen „Wissensbestand“ geworden sind. Abgesehen von einigen wenigen diskursiven Ereignissen, die Diskurse von heute auf morgen verändern können, geschehen Diskursveränderungen meist langsam und nicht-linear und eine jede Stimme, die den herrschenden Diskurs reproduziert, aber eben auch jede, die dort aktiv intervenierend eingreift, zählt in diesem Prozess. Insbesondere, wenn sie – wie im Lernraum – multiplikatorische Wirkung hat.

Möchte ich etwas gegen Rassismus und Diskriminierung tun, so wie es in diesem Quartal bei EPALE als zentrales Thema gesetzt wurde, ist es daher wichtig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welchen Beitrag ich als Pädagog*in leisten kann, um die vorhandenen gesellschaftlichen Über- und Unterordnungen nicht weiter zu fixieren, sondern sie in einer Weise zu verändern, dass sie weniger ungerecht und weniger gewaltvoll sind.

Dazu sind mindestens drei Schritte wichtig.

  • Erstens muss ich mir klar sein und dazu bereit sein, das, was ich für die „Normalität“ halte, beständig zu hinterfragen und daraufhin zu überprüfen, ob diese „Norm(alität)“ dazu führt, dass Menschen diskriminiert werden.
  • Zweitens muss ich mich selbst in die Lage versetzen, eine „intersektionale Analysebrille“ zu entwickeln.
  • Drittens muss ich bereit sein, aus den Ergebnissen meiner Überlegungen Konsequenzen zu ziehen.

Doch was ist damit gemeint, wenn von einer intersektionalen Analyse gesprochen wird?

Intersektional denken lernen

Eine intersektionale Analysebrille meint, dass Situationen im und außerhalb des Lernraums, nicht nur eindimensional betrachtet und analysiert werden, sondern die verschiedenen gesellschaftlich relevanten Differenzlinien jeweils gleichzeitig und in ihrer Verschränkung in den Blick genommen werden. Hilfreich ist es, wenn dazu zunächst einmal ein Blick auf die eigene Person gerichtet wird, ein Prozess, der auch „involvierte Professionalisierung“ (Messerschmidt 2016) genannt wird: Aus welcher gesellschaftlichen Position heraus, mache ich meine pädagogische Arbeit? Inwiefern bin ich privilegiert in Bezug auf meine sozioökonomische Ausgangslage, meine Hautfarbe im Kontext Deutschland, meine Nationalität, meine Erstsprache, mein Geschlecht, meine sexuelle Orientierung, meine körperlichen und geistigen Fähigkeiten etc.? An welchen Stellen habe ich vielleicht auch schon die Erfahrung von Ausschluss und Deprivilegierung gemacht? Wie trage ich durch mein Sprechen über Normalität und Differenz dazu bei, dass die vorhandenen Über- und Unterordnungen stabilisiert werden? Wie kann ich meine eigenen Privilegierungen nutzen, um mich aktiv für eine Veränderung des Diskurses einzusetzen, der mehr Menschen einen anerkannten Platz in dieser Gesellschaft ermöglicht? Das Stellen dieser Fragen und das Suchen nach Antworten darauf ist ein lebenslanger Lernprozess, der immer wieder neue Erkenntnisse bringt und abhängig von den jeweiligen, sich ständig verändernden Verhältnissen, neu angestoßen werden muss. Die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt im Juni 2021 haben einer vom Verfassungsschutz beobachteten rassistisch-nationalistischen Partei 20% der Wähler*innenstimmen eingebracht. In anderen Ländern dieser Welt – auch in Europa – sind ähnlich ausgerichtete Gruppierungen bereits zu führenden Regierungsparteien gewählt worden. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir leben wollen und welchen Beitrag wir – gerade auch im Kontext der Erwachsenenbildung dazu leisten können – ist daher keine Option, sondern ein Muss, wenn wir die plurale Demokratie, in der wir leben, erhalten wollen.

 


Über die Autorin

Prof. Dr. Alisha M.B. Heinemann leitet den Arbeitsbereich Bildungsverläufe und Diverstität im Fachbereich 12 Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen. Ihre Schwerpunkte liegen in der postkolonial perspektivierten Diversitätsforschung, der kritischen Berufs- und Erwachsenenbildung sowie der pädagogischen Professionalitätsentwicklung in der Migrationsgesellschaft.

 


Literatur

Aktionsgruppe. „Manifest zur kritischen Erwachsenenbildung“. http://kritische-eb.at/wordpress/manifest/ (Abfrage 07.06.2021).

Eisenstein, Zillah. "The Combahee River Collective Statement". http://circuitous.org/scraps/combahee.html (Abfrage 07.06.2021).

Giroux, Henry A. (2017): On critical pedagogy. New York, ©2011: Bloomsbury.

Hall, Stuart (Hrsg.) (2012/1992): Rassismus und kulturelle Identität. 5. Aufl. Hamburg: Argument-Verl.

Mecheril, P./Melter, C. (2010): Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus. In: Mecheril, Paul/Castro Varela, María do Mar/Dirim, İnci/Kalpaka, Annita/Melter, Claus (Hrsg.): Migrationspädagogik. Weinheim, Basel: Beltz Verlag. S. 150–178.

Messerschmidt, Astrid (2016): Involviert in Machtverhältnisse: Rassismuskritische Professionalisierung für die Pädagogik in der Migrationsgesellschaft. In: Dogmus, Aysun/Karakaşoğlu, Yasemin/Mecheril, Paul (Hrsg.): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS. S. 59–70.

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